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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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über den Tisch, nahm das Gewehr, holte eine Patrone aus ihrem Loch in der Tasche, lud das Gewehr mit einer routinierten Bewegung und reichte mir die Waffe.
    »Ziel und schieß auf die Dose!«
    »Das wird aber doch knallen?«
    »Es macht ein bisschen puff«, sagte der Alte, »nicht lauter, als wenn ein Luftballon platzt. Ich habe fünfzig Jahre lang vom Fenster aus auf Katzen geschossen. Niemand hat sich beklagt, nicht einmal die Katzen. Schieß jetzt, dann wirst du sehen, was du wert bist. Der Sicherungsflügel ist seitlich am Kolben. Klapp ihn herunter, bevor du abdrückst.«
    Ich ergriff die Waffe mit einer gewissen Spannung, ging zum Fenster und hob das Gewehr, legte den Schaft in die linke Hand, schloss das linke Auge, stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett und zielte auf die Farbdose. Das Korn lag genau in der Mitte der Kimme.
    »Drück ganz vorsichtig ab«, flüsterte der Alte.
    Ich drückte den Abzug mit dem rechten Zeigefinger immer weiter zurück. Dann zog ich den Kolben gegen die Schulter, und das Geräusch eines unbedeutenden Knalls erfüllte für einen Moment das Zimmer. Die Dose auf dem Rasen bebte. Der Geruch des Schusses kitzelte mich in der Nase.
    »Ist das Pulver?«, fragte ich und straffte den Rücken.
    »Es heißt Cordit«, sagte der Alte. »Hast du getroffen?«
    »Ich glaube ja.«
    »Dann lass uns mal nachgucken.«
    Ich legte das Gewehr auf den Tisch neben die Tasche, reichte dem Alten eine Hand und half ihm vom Stuhl auf. Er tastete nach dem Stock, stieß ihn aber um, und ich bückte mich und hob ihn auf. Er nickte mir dankbar zu.
    Dann ging ich ihm voraus zur Treppe. Unten auf dem Schotterweg wartete ich, bis er sich, auf das Geländer gestützt, Schritt für Schritt heruntergearbeitet hatte.
    Langsam gingen wir über den Rasen. Der Alte hatte offenbar Angst zu fallen. Als wir die Dose erreichten, hob ich sie auf, und wir studierten das Resultat meiner Schussübung. Mitten in dem schwarzen Kreis, der zeigen sollte, dass die Dose schwarze Farbe enthalten hatte, war das Einschussloch. Das Austrittlochauf der Rückseite war nicht so rund und glatt wie das Einschussloch. Es sah aus, als hätte sich das Geschoss gedreht, die Rückseite der Blechdose war eingebeult und an einer Stelle zerfetzt.
    »Ausgezeichnet!«, lobte mich der Alte. »Ich wusste, dass du es draufhast.«
    Dann zeigte er mit dem Gewehrschaft auf die hinterste Weide.
    »Stell die Dose dahin!«
    Ich tat, was er gesagt hatte. Jetzt stand die Dose weitere zehn Meter vom Fenster entfernt. Wir kehrten ins Haus zurück, und der Alte zeigte mir, wie ich das Gewehr nach jedem Schuss nachladen musste. Dann zielte ich und schoss.
    Wir wiederholten die Prozedur mit dem Spaziergang zur Dose, und der Alte lobte das Ergebnis, diesmal hatte ich den unteren Teil der Dose getroffen. Er bat mich, die Dose näher beim Haus aufzustellen, und dann gingen wir wieder hinein, und ich schoss ein drittes Mal.
    »Hast du getroffen?«
    »Ich glaube ja.«
    Er nickte, machte aber keine Anstalten, noch einmal hinauszugehen, um das Resultat zu kontrollieren.
    »Du kannst mit der Waffe umgehen. Jetzt müssen wir nur noch nach der Beute Ausschau halten. Du hast sicher ein Handy?«
    Ich fand einen Stift im Bücherregal und schrieb meine Nummer auf eine Zeitung und legte sie vor ihn hin.
    Langsam und offenbar mühsam riss der Alte den Streifen mit meiner Nummer ab und steckte ihn in seine Brieftasche. Dann lehnte er sich gegen das Kissen und schloss die Augen.
    »Wenn ich das Vieh sehe, rufe ich an. Dein Handy ist hoffentlich meistens eingeschaltet?«
    Ich bestätigte es, und er sah zufrieden aus.
    »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte er nach einer Weile, ohne die Augen zu öffnen.
    »Der geht es gut.«
    »Hat sie einen Job?«
    »Sie ist Friseurin und hat einen Salon in der Stadt gekauft. Sie ist bei Toni & Guy ausgebildet worden.«
    »Toni und Guy«, murmelte der Alte mit geschlossenen Augen. »Findest du, ich sollte mir die Haare schneiden lassen?«
    Ich hatte nicht auf seine Haare geachtet. Jetzt musterte ich eine Weile seine Frisur. Er wurde ungeduldig.
    »Na? Sollte ich oder nicht?«
    »Ich weiß nicht, ob das nötig ist.«
    Er sprach immer noch mit geschlossenen Augen.
    »Glaubst du, deine Mutter würde es machen?«
    »Keine Ahnung.«
    »Würdest du sie bitte fragen?«
    »Klar.«
    Er öffnete die Augen und sah zufrieden aus.
    »Was macht deine Schwester?«
    »Annie kommt nächste Woche aufs Gymnasium.«
    Der Alte dachte eine Weile über die Information

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