Du musst die Wahrheit sagen
Durch die Tür ertönten die Klänge eines Saiteninstruments.
Karl Berger sang.
O Tannenbaum, o Tannenbaum
Wie treu sind deine Blätter …
Ich traute mich nicht, den Rasenmäher stillschweigend im Keller abstellen. Wenn der Alte mich hörte, würde er womöglich nervös werden, weil er glaubte, es wären Diebe im Haus.
Also ging ich die Treppe hinauf und folgte der Musik in das rechte Zimmer. Berger saß in einem Sessel und zupfte auf einem seltsamen Instrument, das auf seinen Knien lag. Es sah aus wie eine schmale, schwarz gestrichene Gitarre ohne Hals, und anstelle von sechs schien es an die dreißig Saiten zu haben. Der Alte kratzte mit seinen acht Fingernägeln daran herum, schaute in die Ferne und sang mit einer Stimme, die früher sicher einmal schön gewesen war, jetzt aber eher wie ein trauriges Krächzen klang.
Dann hörte er auf zu spielen und fragte, ohne sich umzudrehen: »Bist du es, Tom?«
Ich stellte mich vor ihn, damit er den Kopf nicht zu drehen brauchte.
»Ich hab den Rasenmäher zurückgebracht. Vielen Dank, dass ich ihn benutzen durfte. Ich wollte ihn nicht einfach in den Keller stellen, ohne Bescheid zu sagen, dass ich es bin.«
»Du bist ein guter Junge«, sagte der Alte. »Du bist in Ordnung. Wusstest du, dass ich Zither spielen kann?«
»Nein.«
»Das hat mir meine Mutter beigebracht. Sie hatte eine schöne Stimme und hat das Lied zu Weihnachten gesungen. Dies ist allerdings nicht die Zither meiner Mutter. Die ist zusammen mit den Resten meines Elternhauses verbrannt. Setz dich.«
Ich setzte mich in einen der drei anderen Lehnsessel, die im Halbkreis um einen runden Tisch vor dem Wandgemälde standen. Ich betrachtete es. Die Männer auf Bergers Bild hatten große schlaffe Schwänze. Die Frauen auf dem Bild bei uns hatten behaarte Schöße und kleine runde Brüste.
»Siehst du, dass es derselbe Mann ist?«, fragte der Alte.
»Wie, derselbe?«
»Alle drei sind derselbe Mann. Von vorn, linkes Profil, rechtes Profil. Aber in Wirklichkeit war er nicht so schön, ich habe ein Foto von ihm gesehen.«
»Wer soll das sein?«
»Baumeister Dagerman. Er hat Immobilien auf Östermalm in Stockholm besessen, aber er wollte im Sommer auf dem Lande wohnen. Deshalb hat er hier gebaut, ein Haus für sich und seine Familie und dieses für seine Geliebte. Das war 1928. Die Ligusterhecke wurde erst später gepflanzt. Zu Dagermans Zeit wuchsen Malven, wo jetzt der Liguster steht. Kannst du mit einer elektrischen Heckenschere umgehen?«
»Ich glaube schon.«
»Im Keller liegt eine mit einem langen Kabel dazu. Du kannst eine Stunde am Tag arbeiten. Sonst ist es zu ermüdend für die Arme, und du musst auf einer Leiter stehen. Die findest du auch im Keller. Ich bezahle wie vorher. Geht das in Ordnung?«
»Klar.«
»Ausgezeichnet.«
Er nahm die Zither von seinem Schoß und legte sie auf den Tisch zwischen uns.
»Ich habe noch eine Arbeit, die erledigt werden muss. Vielleicht kannst du die auch übernehmen?«
»Es kommt drauf an, um was es geht.«
Berger nahm die Brille ab, putzte sie mit einem Lappen, den er aus der Hosentasche zog, und setzte die Brille wieder auf.
»Oben in meinem Schlafzimmer ist links vom Bett eine Abseite. Darin steht eine Kommode. Wenn du die oberste Schublade öffnest, findest du darin eine Tasche. Hol sie bitte herunter, ich möchte dir etwas zeigen.«
Ich stand auf, war aber aus irgendeinem Grund nicht ganz sicher, ob er wirklich wollte, dass ich sein Schlafzimmer betrat.
»Einfach die Treppe rauf!«
Er wedelte mit der Hand, als wollte er mich verscheuchen. Ich ging in den Vorraum und durch eine Tür, die sich auf der anderen Seite der Wandmalerei befand. Dann stieg ich die Treppe hinauf.
Dort hatte er alle inneren Wände herausgerissen, sogar die Wände um das Badezimmer. Die Badewanne stand auf Löwenpfoten, die Toilette hatte eine Holzbrille, und im Waschbecken waren Messinghähne. Außerdem gab es ein eisernes Bettgestell mit Messingknöpfen auf den Pfosten. Das Bettzeug war blau, und die Kissen waren riesig. Dort, wo Annies Zimmer in unserem Haus ist, standen zwei verschlissene Ledersofas und ein viereckiger Tisch. An der ganzen Nordwand zog sich ein Bücherregal entlang, das bestimmt eigens für diese Wand angefertigt worden war. Auf dem Tisch zwischen den Sofas lagen eine viereckige Lupe mit silbernem Griff und einige dicke Bücher, die wie Atlanten aussahen.
Ich betrat die Abseite. Sie glich der in meinem Zimmer auf den Zentimeter, und die Kommode hatte
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