Du musst die Wahrheit sagen
hohe Gras. Dann beugte ich mich vor und betrachtete ihn. Sein Auge beobachtete mich. Ich ging bis zum letzten Ligusterbusch, betrat Bergers Grundstück und ging zur Kellertür.
Unten roch es nach Benzin, Heizöl, Staub und alter Farbe. Ich durchquerte den Keller, stieg die Treppe hinauf und gelangte in die Diele.
Der Gestank vom Abfall erfüllte jetzt das ganze Wohnzimmer.Ich nahm das Foto mit der Flugmaschine von der Wand und setzte mich in Bergers Sessel.
Mir war übel. Ich starrte das Foto an.
Dann ging ich nach oben und holte das Vergrößerungsglas.
Wieder unten angekommen, studierte ich das Bild von der Flugmaschine. Der Pilot saß unter der Kanzelhaube und hatte eine Hand zum Gruß erhoben. Wer es war, war nicht zu erkennen. Ich stellte mir vor, ich wäre es. Wohin war ich unterwegs? Wie lautete mein Auftrag?
Ich legte das Vergrößerungsglas weg und wollte die gerahmte Fotografie wieder aufhängen. Da fühlte ich einen Zettel auf der Rückseite. Ich legte das Bild mit dem Glas nach unten auf den Tisch. Das festgeklebte Blatt war gelblichweiß wie ein Knochen und hatte eine dünne blaue Borte. Eine Rechnung von einer Buchhandlung in Oslo, datiert auf Januar 1958.
Unter den Titeln von zwei Romanen hatte jemand das Papier mit Lippenstift geküsst. Das Rot war sehr schwach, kaum noch zu sehen.
Die Rechnung war mit einem Tropfen Klebstoff am oberen und unteren Papierrand festgeklebt. Ich ging in die Küche und holte ein Messer aus einer Schublade. Hier war der Abfallgestank fast unerträglich. Beim Verlassen der Küche schloss ich die Tür hinter mir. Bevor ich zu dem Sessel zurückkehrte, öffnete ich das Fenster, durch das ich auf die Farbdose geschossen hatte. Dann schob ich das Messer zwischen den Karton des Bildes und die Rechnung. Das Papier löste sich. Ich faltete es in der Mitte und steckte es in meine linke Gesäßtasche.
Danach hängte ich das gerahmte Bild wieder an seinen Platz und begann, in den Bücherregalen zu suchen. Die Bücher, überwiegend auf Deutsch, waren nach dem Alphabet geordnet. Nach einer Weile fand ich einen Regalmeter auf Norwegisch. Das am häufigsten gelesene Buch hieß »Segen der Erde«. Es war ganz zerlesen, und es gab Anzeichen, dass es im Freien gelegenhatte und nass geworden war. Ich nahm es aus dem Regal, setzte mich wieder in den Sessel, blätterte darin und las hier und da eine Zeile.
Nach einer Weile legte ich es auf den Tisch und ging in die Küche. Ich öffnete die Tür zu dem Vorratsraum unter der Spüle, hielt die Luft an, nahm die Abfalltüte und trug sie durch den Keller zu den Mülltonnen auf dem Hof.
Dann kehrte ich ins Haus zurück und riss das Küchenfenster sperrangelweit auf, sodass Durchzug vom Fenster im Wohnzimmer entstand. Nach einer Weile setzte ich mich wieder in Bergers Sessel.
Der Mann an der Wand beobachtete mich. Seltsamerweise wirkte es so, als ob der Kopf im linken Profil und der im rechten Profil mich genauso ansahen, wie mich der Mann von vorn direkt anschaute. Ich nahm das Vergrößerungsglas und ging zu dem Gemälde. Von Nahem war jeder Pinselstrich zu erkennen.
In der rechten unteren Ecke stand der Name des Künstlers. Erixson.
Ich ging mit dem Vergrößerungsglas in das obere Stockwerk. Als ich das Glas auf den Atlas zurücklegen wollte, blieb ich stehen. Die Landkarte zeigte Nordnorwegen ab Narvik und weiter nördlich aufwärts. Vor Kirkenes waren zahlreiche dünne Bleistiftlinien über das Meer gezogen. An den Stellen, wo die Striche endeten, waren reiskorngroße Ovale eingezeichnet. Neben den Ovalen standen Zahlenkombinationen, durch Klammern getrennt.
Ich warf mich auf das Sofa, griff nach dem Atlas und blätterte darin. Es gab fünf Doppelseiten von Norwegen, die alle mit dünnen Bleistiftstrichen überzogen waren, aber nur bei Kirkenes waren die reiskorngroßen Ovale eingezeichnet.
Ich ging zur Toilette und pinkelte. Ich spülte und drehte mich zu dem ungemachten Bett um. Unter dem Nachttisch lag ein weiteres Vergrößerungsglas.
Mein Handy klingelte. Es war Nadja.
»Was hast du getan?«, fragte sie.
»Wie meinst du das?«
»Du hast Tubal geschlagen.«
»Er hat mich zuerst geschlagen.«
»Leila sagt, du bist ein Rassist.«
»Nein.«
»Was nein?«
»Ich bin kein Rassist.«
»Das behauptet sie aber.«
»Sie täuscht sich.«
Nadja schwieg eine Weile, ich hörte ein Geräusch, als würde sie auf etwas kauen.
»Warum hast du ihn geschlagen?«
»Erst hat er Patrik geschlagen und dann mich.«
»Alle sagen, du
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