Du musst die Wahrheit sagen
ein Weihnachtsgeschenk von ihrem Vorschulkindbekommen, und die Eltern wissen schon, dass es ein Schlips oder ein selbst gehäkelter Topflappen ist, bemühen sich aber trotzdem, neugierig zu wirken.
Dick fing Mamas Blick auf.
»Annie hat mir ein Glas Wein angeboten. Kann ich noch ein Glas haben?«
»Ich war im Krankenhaus.« Mama stellte die SupermarktTüte auf dem Fußboden ab.
»Bei Berger?«, fragte ich.
»Ich kann den Wein holen«, sagte Annie und stand auf.
»Wie geht es ihm?«, fragte ich.
»Er kann nicht mehr sprechen«, sagte Mama. »Er zeigt auf eine Tafel mit Buchstaben.«
»Auf welche Buchstaben hat er gezeigt?«
» Tochter «, sagte Mama.
» Tochter ?«, wiederholte ich.
»Das ist Deutsch«, sagte Mama.
In dem Augenblick nahm ich den Deckel von dem Karton.
»Guck mal«, sagte ich, »zweihundert Fotos, fast alle von Großmutter.«
Mama schnappte nach Luft und beugte sich über den Karton. Sie nahm eine Handvoll Bilder heraus und breitete sie vor sich auf dem Tisch aus. Drei zeigten Großmutter im Badeanzug auf dem Steg. Eins war das Bild von den beiden Männern unter dem blühenden Apfelbaum. Und zwei waren Porträts.
»Das ist sie!« Mama stöhnte. »Herr im Himmel, das ist Mama!«
»Aus Bergers Dunkelkammer«, sagte ich.
»Ich kapier kein Wort«, sagte Dick.
Mama nahm ein Foto nach dem anderen in die Hand und zeigte auf Großmutters Gesicht.
»Hier war sie jung, eben zwanzig geworden. Und das hier ist Harry.«
Sie zeigte auf einen gut aussehenden Mann in mittleren Jahren. Er hatte eine Pfeife in der Hand und kurz geschnittene dunkle Haare.
»Die hatten doch zusammen eine Firma, oder?«, sagte ich. »Berger und Falk.«
Mama zog den Karton näher zu sich heran. Dann nahm sie eine weitere Handvoll Fotos heraus und breitete sie auf dem Tisch aus, eins neben dem anderen.
»Woher hast du die?«, fragte sie, ohne den Blick von den Bildern zu wenden.
»Bei Berger gefunden«, sagte ich.
»Er kann nicht mehr sprechen, hat mit dem Finger ›Brieftasche‹ gezeigt«, erzählte Mama. »Für die elf Buchstaben hat er mehr als fünf Minuten gebraucht. In der Brieftasche war eine Visitenkarte von einem Notar. Ich soll ihn morgen anrufen.«
»Ich verstehe immer noch kein Wort«, sagte Dick.
Da kam Annie mit dem Wein.
»Ich hab einen Typen in der Schule niedergeschlagen«, sagte ich, während Mama die Bilder vor sich aufreihte. Sie blieb mit einem Foto in der Hand sitzen. Es zeigte Berger, als er ungefähr in Dicks Alter war. Er war leicht zu erkennen, obwohl das Bild mindestens fünfzig Jahre alt war. Mama schaute mich an, dann das Bild, wieder mich.
»Ihr seht euch ja so was von ähnlich«, platzte sie heraus.
Annie stellte sich hinter Mama und studierte das Foto über ihre Schulter.
»Das ist ja fast unheimlich«, sagte Annie. »Wie ähnlich sie sich sind.«
Dick schenkte sich selbst ein Glas Wein ein.
»Hol mir bitte auch ein Glas«, sagte Mama zu Annie, die wieder in die Küche trabte.
»Ich hab einen Typen in der Schule niedergeschlagen«, wiederholte ich. »Jetzt glauben sie, ich bin Rassist.«
»Es ist nie gut, jemanden in den Rücken zu treten«, sagte Dick. »Dafür muss man immer büßen.«
»Was sagst du da?« Mama schnappte nach Luft.
»Ich hab in der Schule jemanden getreten«, wiederholte ich. »Er heißt Tubal.«
Mama keuchte. »Was sagst du da? Getreten? Du schlägst dich doch sonst nie!«
»Ich musste«, sagte ich. »Er hat mich zuerst geschlagen. Ich hatte Nasenbluten.«
»Man ist nie gezwungen, gewalttätig zu werden«, sagte Dick. »Man kann immer weggehen.«
»Ich hab dem Scheißkerl in den Rücken getreten, und da ist ihm die Lippe gerissen«, sagte ich.
Mama starrte mich mit offenem Mund an. Sie war ganz blass. Ich weiß nicht, ob sie blass war, weil ich Tubal getreten hatte oder weil ich einen Karton voll Fotos von Großmutter ins Haus gebracht hatte oder weil sie Berger getroffen und begriffen hatte, dass er ihr Vater war, und feststellen musste, dass er nicht mehr sprechen konnte.
Ihr Gesicht war gräulich gelb.
»Was sagst du da?«, wiederholte sie. »Jemanden getreten?«
»Ich hätte den Kerl umbringen können«, sagte ich.
»Das meint man nie ernst«, sagte Dick, »aber man sollte es trotzdem nicht aussprechen. Es könnte falsch verstanden werden.«
»Ich hätte den Kerl umbringen können«, wiederholte ich.
»Mein großer Bruder«, sagte Dick, »als ich in deinem Alter war, hätte ich ihn wirklich umbringen mögen. Jedenfalls hatte ich das
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