Du oder das ganze Leben
zeigt mit dem Finger auf Shelley, dann auf das Essen auf dem Boden. »Deshalb habe ich dich seit Monaten in kein Restaurant mitgenommen«, sagt sie.
»Mom, hör auf damit«, protestiere ich. »Es gibt keinen Grund die Situation eskalieren zu lassen. Shelley ist schon völlig außer sich. Warum es noch schlimmer machen?«
»Und was ist mit mir?«
Ein unerträglicher Druck baut sich in mir auf, es beginnt tief in mir drinnen und breitet sich bis zu den Fingerspitzen und Zehen aus. Es brodelt in mir und bricht mit solcher Macht hervor, dass ich mich nicht länger zurückhalten kann. »Es geht hier nicht um dich! Warum muss sich am Ende immer alles darum drehen, wie es dir damit geht?«, schreie ich. »Mom, siehst du denn nicht, dass sie Schmerzen hat? Warum versuchst du nicht herauszufinden, was ihr fehlt, anstatt sie anzubrüllen?«
Ohne nachzudenken schnappe ich mir einen Waschlappen
und gehe neben Shelley in die Knie. Ich beginne ihre Hose abzureiben.
»Brittany, nicht!«, ruft meine Mom aus.
Ich höre nicht auf sie. Das hätte ich aber tun sollen, denn bevor ich mich wieder aufrichten kann, fährt Shelley mit den Händen in mein Haar und zieht daran. Stark. Bei der ganzen Aufregung habe ich vergessen, dass meine Schwester seit Neustem an den Haaren zieht.
»Au!«, sage ich. »Shelley, hör bitte damit auf!« Ich versuche, nach hinten zu greifen und ihre Knöchel zu drücken, damit sie ihren Griff öffnet, wie es uns der Arzt gezeigt hat, aber es hat keinen Sinn. Ich bin in der falschen Position, zusammengekrümmt zu Shelleys Füßen mit verdrehtem Körper. Meine Mom flucht, Essensbrei fliegt in alle Richtungen und meine Kopfhaut fühlt sich bereits wund an.
Shelley löst ihren Griff nicht, obwohl meine Mutter versucht, ihre Hände von meinem Haar wegzuziehen.
»Die Knöchel, Mom!«, rufe ich, um sie an das zu erinnern, was Dr. Meir uns geraten hat. Himmel, wie viele Haare hat sie mir ausgerissen? Es fühlt sich an, als sei ein großer Bereich meines Kopfes kahl.
Nachdem ich sie daran erinnert habe, muss meine Mutter genügend Druck auf ihre Knöchel ausgeübt haben, denn Shelley lässt mein Haar los. Entweder das, oder sie hat sämtliche Haare ausgerissen, an denen sie sich festgeklammert hatte.
Ich falle zu Boden und fahre sofort mit der Hand an meinen Hinterkopf.
Shelley lächelt.
Meine Mom runzelt die Stirn.
Und mir treten Tränen in die Augen.
»Ich gehe sofort zu Dr. Meir mit ihr«, verkündet meine
Mutter kopfschüttelnd. Sie sieht mich dabei an, damit ich weiß, dass sie mir die Schuld dafür gibt, dass die Situation außer Kontrolle geraten ist. »Das geht schon viel zu lange so. Brittany, nimm das Auto deines Vaters und hol ihn vom Flughafen ab. Er landet um elf. Das ist das Mindeste, das du tun kannst, um zu helfen.«
16
Alex
Ich habe über eine Stunde in der Bücherei auf sie gewartet. Okay, dann waren es eben anderthalb. Bis zehn habe ich draußen auf den grauen Betonbänken gesessen. Um zehn bin ich reingegangen, habe vor dem Schwarzen Brett rumgehangen und so getan, als wären die Veranstaltungshinweise wahnsinnig interessant. Ich wollte nicht, dass es aussieht, als könnte ich es kaum erwarten, Brittany wiederzusehen. Um Viertel vor elf lümmelte ich mich in einen der Sessel und habe in meinem Chemiebuch gelesen. Zugegeben, in Wahrheit sind meine Augen über die Seiten geglitten, ohne die Worte zu registrieren.
Jetzt ist es elf. Wo ist sie?
Ich könnte einfach abhauen und mit meinen Freunden abhängen. Verdammt, ich sollte abhauen und mit meinen Freunden abhängen. Aber ich habe das bescheuerte Bedürfnis, zu wissen, warum Brittany mich versetzt hat. Ich sage mir selbst, dass es um mein Ego geht, aber in meinem Hinterkopf nagt die Sorge um sie.
Während ihres Ausrasters vor dem Krankenzimmer hat sie durchblicken lassen, dass die Aussichten für ihre Mom, zur Mutter des Jahres gekürt zu werden, nicht besonders groß sind. Ist Brittany nicht klar, dass sie achtzehn ist und jederzeit von Zuhause abhauen kann, wenn sie das will? Wenn es wirklich so schlimm ist, warum bleibt sie dann?
Weil ihre Eltern reich sind.
Wenn ich von Zuhause wegginge, würde mein neues Leben sich nicht groß von meinem alten unterscheiden. Für ein Mädchen von der Northside dagegen ist ein Leben ohne Designerhandtücher und Hausmädchen wahrscheinlich schlimmer als der Tod.
Ich habe endgültig genug davon, herumzustehen und auf Brittany zu warten. Ich werde zu ihr nach Hause fahren, um sie von Angesicht
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