Du sollst eventuell nicht töten - eine rabenschwarze Komödie
mal ein Gedicht vortragen! Und selbst wenn ich müsste: Ich würde »Tief drauß vom Walde komm ich her …« nehmen, das konnte ich aufsagen, ohne dabei auch nur eine Hirnzelle zu bewegen! Meine Hände wurden schweißnass, und während ich mir mein Feiertagsjackett anzog, erlitt ich einen Zuckersturz. Ich zog das Feiertagsjackett wieder aus und warf es auf den Boden. Nein, ich wollte mich auf meinen letzten Metern weder verkleiden noch verstellen; ich würde als der gehen, der ich nun mal war, nämlich ein krawattenloser, gebrochener Held, mit einem Bein im Grab und mit dem anderen auf der erfolglosen Pirsch. Außerdem hatte sich mein Nebenbuhler auch nicht sonderlich herausgeputzt; Cromwell trug seine Alltagskleidung. Und Mendelssohn ging wie immer in rabenschwarz – seit der Erblindung hatte er seine Garderobe aus Gründen der Pragmatik auf schwarz-grau umgestellt; so konnte er sich sicher sein, dass er – egal, was er gerade aus dem Schrank zog – immer korrekt gekleidet war und nicht aus Versehen wie ein Ara herumlief. Cromwell sah mich erstaunt an: »Ist dir schlecht? Du siehst so aus … und ich meine jetzt nicht dieses entsetzliche Hemd.«
»Das hast DU mir doch ausgesucht!«
»Das kann nicht sein. Ich würde doch niemandem zu so einem Hemd raten!«
»Ich wusste es! Du willst mich vorführen!«
Cromwell lachte und legte mir begütigend die Hand
auf die Schulter: »Quatsch. Gut siehst du aus. Nur etwas bleich.«
Für jemanden, dessen Tage gezählt sind, ging morbide Blässe ja wohl mehr als in Ordnung. Aber gegen meine aufgeregte Übelkeit musste ich etwas machen. Ich fragte Mendelssohn, ob er über eine Hausapotheke verfüge. Er schickte mich ins Bad; im Schränkchen ganz rechts habe er so dies und das an pharmazeutischen Leckereien. Mendelssohn war wirklich sehr gut sortiert. Die meisten Pillen zwar schon längst abgelaufen, manche auch ohne Verpackung mit Beipackzettel, aber wirklich von allem etwas: ein paar verlorene Antibiotika, etwas Beruhigendes, etwas gegen Durchfall, etwas Eisen, etwas Aufputschendes … Ich entschied mich für eine zwei Jahre alte Tablette gegen Reisekrankheit. Irgendwas würde sie schon bringen, und wenn es sich im Placebobereich abspielte.
Dann rempelten wir uns unter einem Regenschirm zusammen und marschierten zu den Lövenichs.
Kapitel 9
enthält einen sträflich angedonnerten Schlomo,
ein paar positive körperliche Kollisionen
sowie eine Riesenportion Pech für die Wurst.
W ir wurden empfangen von einer sperrangelweit geöffneten Tür, gedämpfter Musik und ungedämpftem Geschnatter. Über diesen Klangteppich schwebten unsere Lövenichs von Raum zu Raum, von Gast zu Gast. Nicht einer hielt sich im wässrigen Garten auf, die kleinen Pavillons standen nutzlos im Gras, die Bänke waren verwaist, und das eingeladene Menschenmaterial klumpte im Foyer und im Zimmer zum Garten. Ritchie winkte aus der Ferne, und als Marvie zu uns trat, bemerkte ich die Wirkung meiner Tablette. Schlagartig.
Ich weiß nicht, was Mendelssohn unter »Reisekrankheit« versteht, aber mich überkam plötzlich ein selig-verschwenderisches Gefühl von Losgelöstheit. Und Angstfreiheit.
UND ich konnte eine gesteigerte Farbsensibilität bei mir feststellen: Marvie trug eine kurze rote Fahne, deren Rot mir derart Rot schien, dass sie frisch von der Maiparade am Kreml zu Besuch sein musste. Ich starrte also auf Marvies Kleid, während sie meine Kompagnons begrüßte, dann stieß mir Cromwell seine spitzen Ellenbogen in die Rippen. Ich schraubte meine Augen eine Etage höher, von Marvies Kleid auf Marvies Gesicht, und statt einer Begrüßung hörte ich mich selber sagen: »Rotfront.« Meinen Weggefährten meinte ich ein gewisses Staunen anzumerken. Aber was konnte ich denn dafür, dass sie nicht selbst auf dieses ausgefallene Begrüßungswort gekommen waren? Diese Langweiler! Ich lächelte exzessiv auf Marvie ein. Was immer auch gegen »Reisekrankheit« wirken mochte: Ich war high. Breit wie ein Rollfeld.
Ich vermute, dass Cromwell und Mendelssohn mich anstarrten. Nein, Cromwell starrte mich vermutlich an, Mendelssohn eher nicht. Es sei denn, auch Blinde können starren. Aber warum eigentlich nicht? Die eindringliche Art, in der Mendelssohn seine Lauscher in die Richtung eines Sprechenden stellt, hat durchaus etwas von Anstarren. Oder besser gesagt: von Anlauschen. Also einem Abhorchen. Von Anstarren auf akustischer Ebene.
Marvies eichhörnchenrunde Kulleraugen legten einen prüfenden Blick auf
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