Du sollst nicht hassen
extremen Spannung zwischen Israelis und Palästinensern. Von Ariel Sharon, der gesagt hatte: »Jeder hat seinen Osama bin Laden, unserer ist Jassir Arafat«, von den unschuldigen palästinensischen Kindern, die getötet worden waren, dem Lynchen israelischer Soldaten in Ramallah, dem anti- arabischen Pogrom in Nazareth. Der 11. September hat auch auf meiner Seite der Welt seinen Tribut gefordert.
Ich wollte nicht über die Balfour-Deklaration und Friedensvereinbarungen, über jüdische Siedlungen und Schmuggel-Tunnel zwischen Gaza und Ägypten sprechen. Ich wollte die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken. Ich wollte mein Wissen darum teilen, dass wir, Israelis und Palästinenser, uns so ähnlich sind.
Wir müssen begreifen, dass es in jedem Land, jeder Religion, jeder Kultur Menschen mit schlechter Gesinnung gibt. Aber es gibt in jedem Land auch ein Lager stiller Menschen, die an dasselbe glauben wie ich. Daran, dass wir die beiden Gesellschaften einander näherbringen können, indem wir den jeweils anderen Sichtweisen und Anliegen Gehör schenken. Ich bin sicher, dass es im Grunde so simpel ist. Ich weiß es aus der Erfahrung meines gesamten Lebens.
Sehen Sie sich den Nahen Osten an, das geschundene Heilige Land, den seit Generationen andauernden Hass und das Blutvergießen. Nur Dialog und gegenseitiges Verständnis können diese Qual beenden. Vertrauen ist im Nahen Osten heute ein seltenes Gut, ein schwaches Pflänzchen, das gepflegt werden muss. Doch man kann den Menschen nicht sagen, sie sollen friedlich zusammenleben, wenn sich die eine Seite einer Lösung beugen muss, die nur für die andere von Nutzen ist. Stattdessen müssen beide aufhören, einander die Schuld zu geben, und einen Dialog in Gang setzen, in dem jeder zu seinem Recht kommt. Jeder weiß, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeugt und noch mehr Hass in die Welt bringt. Ich kann all jenen Politikern, die behaupten, für mich zu sprechen, nicht trauen. Sie verfolgen Ziele, die nicht die meinen sind. Wenn ich aber mit meinen Patienten, meinen Nachbarn und Kollegen – Juden wie Arabern – rede, stelle ich fest, dass es ihnen so geht wie mir: Zwischen uns gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, und wir alle haben genug von der Gewalt.
Als Arzt, der in Israel und Gaza praktiziert, sehe ich die Medizin als Brücke, genauso wie Bildung und Freundschaften. Wir alle wissen, was zu tun ist, was hält uns auf? Wer hält die Schranken zwischen unseren beiden Seiten aufrecht? Wir müssen einander verstehen, indem wir die jeweils andere Realität zu unserer machen, Zeichen der Toleranz setzen und das Heilen an die Stelle des Hasses setzen.
Ich beobachtete die jüdisch-amerikanischen Zuhörer, während ich sprach. Ich konnte sehen, wie sie die Wahrheit aufnahmen, als ich ihnen vom Leben in Gaza berichtete. Sie lehnten sich nicht mehr demonstrativ auf ihren Stühlen zurück, um darauf zu warten, dass ich fertig wäre. Wie alle anständigen Menschen waren sie schockiert über das, was ich ihnen zu sagen hatte, und ein bisschen überrascht von der schlichten Botschaft. Ich wusste, dass ich gewonnen hatte, als Steve Flatow, der Mann, der meine Teilnahme am Podium nicht gebilligt hatte, aufstand und sagte: »Du bist morgen zum Sabbatessen bei mir eingeladen.« Am nächsten Tag schickte er ein Auto, um mich abzuholen. Wir aßen mit seiner Mutter zu Mittag, und er sagte: »Izzeldin, was kann ich für die Menschen in Gaza tun?« Ich hätte an diesem Tag kein schöneres Geschenk bekommen können.
Im Februar 2002 starb meine Mutter, und ich spürte, dass ich den Menschen verloren hatte, der am meisten für mich geopfert hat. Sie war diejenige, die die Familie zusammenhielt, als ich Kind war. Es war ihre Strenge, die uns alle vorantrieb.
Nur wenige Tage bevor sie starb, traf ich sie auf der Straße an, wo sie darauf wartete, von jemandem zum Haus ihrer Cousine mitgenommen zu werden; und ich fuhr sie in meinem Wagen hin. Sie schien ganz so zu sein wie immer, kräftig und gesund.
Wir hatten gerade das Opferfest Id al-adha gefeiert. Meine Mutter war vor Freude, dass sie all ihre Kinder und Enkelkinder bei sich hatte, völlig aus dem Häuschen. Danach fuhr ich nach Hause, um zu packen, weil ich nach San Francisco musste, um an einer Konferenz teilzunehmen. Gerade als ich zur Tür hereinkam, rief mein Bruder an, um zu sagen, meiner Mutter ginge es nicht gut. Als ich wieder bei ihrem Haus ankam, stellte ich fest, dass sie einen Schlaganfall gehabt hatte, und
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