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Du sollst nicht hassen

Titel: Du sollst nicht hassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Izzeldin Abuelaish
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fünfzehn verdient hatte, nicht verlassen, um zu vermeiden, dass Noor heimkäme und uns nicht fände. Natürlich wusste jeder, wo wir jetzt waren, und sie würden ihm sagen, wo er uns finden könnte. Aber unsere Mutter beharrte darauf, sodass abwechselnd einer der Söhne bei ihr blieb. Einer meiner Brüder nannte seine Tochter Noor, ein anderer seinen Sohn. Wir behielten ihn auf diese Weise in der Familie. Das war alles, was wir tun konnten.
    Am 11. September 2001 hatte ich Dienst in der Notaufnahme der gynäkologischen Abteilung am Soroka Hospital. Wir hatten viele Patienten an dem Abend, es gab so viel zu tun, dass ich nicht mal dazu kam, mich am Kopf zu kratzen. Etwa um Mitter nacht sagte einer der Putzleute: »In Amerika stürzen Häuser ein.« Ich ging in einen Raum mit einem Fernseher und sah, wovon er gesprochen hatte. Der erste Tower des World Trade Centers brach gerade zusammen. Niemand hätte gedacht, dass der Terror die Vereinigten Staaten erreichen könnte. Doch so war es.
    Als Palästinenser wusste ich einiges über Terror. Ich hatte einen Großteil meines Lebens mit ihm gelebt. Bald nach der Tragödie von 9/11 war ich zu einer Podiumsdiskussion anlässlich eines Symposiums eingeladen, das die American Friends of Soroka Medical Center of the Negev in New York veranstalteten. Es trug den Titel: »Nach dem terroristischen Anschlag – ein Dialog des Heilens«. Auf dem Podium saßen außer mir ein Journalist, David Makovsky, ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Washington Institute for Near East Policy, der Anwalt Steven Flatow, der Vater von Alisa Flatow, die durch einen Selbstmordattentäter in Gaza getötet wurde, und Esther Chachkes, die Direktorin des Instituts für Sozialarbeit an der medizinischen Fakultät der New York University. Mir war sofort klar, dass ich die Einladung annehmen und mich vor diesem Publikum gern zu dem Thema äußern wollte. Doch dann erfuhr ich von der Organisatorin, Mona Abramson, einer Kollegin und Freundin aus meiner Zeit am Soroka Hospital, dass einer der Podiumsteilnehmer gefordert hatte, dass meine Einladung zurückgezogen würde.
    Es war Steven Flatow, der Mona gefragt hatte: »Wieso nimmt ein Palästinenser aus Gaza an der Konferenz teil? Meine Tochter wurde in Gaza getötet.« Aber sie überzeugte ihn, indem sie sagte: »Urteile nicht vorschnell und impulsiv und sage nicht Nein, bevor du ihn kennenlernst.« Als Mona mir davon erzählte und mich fragte, ob ich immer noch teilnehmen wollte, sagte ich ihr, dass ich dazu bereit sei. Ich sah es als eine Gelegenheit, um die jüdische Gemeinschaft zu erreichen. Genau dort musste die Heilung beginnen. Ich bereitete das, was ich zu sagen hatte, sorgfältig vor, denn ich wollte, dass jedes Wort Gewicht hätte.
    Ich flog mit dem festen Vorsatz nach New York, dort meine Sicht der Wahrheit zu schildern, aber ich konnte mir auch gut vorstellen, was mir als einziger palästinensischer Stimme unter lauter Juden auf dem Podium bevorstehen würde. Als ich ankam, war klar, dass auch das Publikum hauptsächlich aus Juden bestand. Noch bevor die Podiumsdiskussion begann, schleuderten mir Leute aus dem Publikum provokative Sätze entgegen: »Ihr erzieht eure Kinder zum Hass auf uns.« Ich wollte ihnen klarmachen, wie das Leben für Palästinenser wirklich war. Es war eine Gelegenheit, ihnen die Augen zu öffnen. Ich schaute ins Publikum und begriff das Ausmaß dieser Aufgabe. Man sieht es den Leuten an, wenn sie geistige Scheuklappen tragen – sie sitzen zurückgelehnt auf ihren Stühlen, vermeiden Augenkontakt und benehmen sich, als seien sie nur pro forma anwesend. Vielleicht waren sie nur dort, um zu erleben, wie ich von den anderen Podiumsteilnehmern auf meinen Platz verwiesen würde. Das kann auch passieren, aber für gewöhnlich endet es anders. Ich hatte Informationen, die sie nicht hatten, ich hatte Geschichten zu erzählen und Argumente vorzubringen. Ich ermahnte mich selbst zu lächeln, wenn ich an der Reihe war zu sprechen.
    Es waren etwa dreihundert Leute im Raum. Ich hatte als Dritter das Wort. Sie hatten bereits die Geschichte von Steven Flatow gehört, als ich das Podium betrat. Anfangs fragte ich mich, ob sie angesichts des Ausmaßes der terroristischen Tragödie, die sie gerade erlitten hatten, überhaupt imstande waren, mir zuzuhören. Konnten sie die quälenden Leiden anderer nachvollziehen, wo sie selbst gerade angegriffen worden waren? Ich wollte ihnen von den letzten vier Wochen im Nahen Osten berichten, von der

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