Du sollst nicht hassen
Gesicht zu einer Wand in einer Reihe aufstellen. Sie rechneten damit, erschossen zu werden. Aber Palästinenser aus der Umgebung hatten beobachtet, was passiert war, und griffen ein. Die jungen Männer wurden nicht getötet, sondern in Knie und Knöchel geschossen. Dann ließ man sie liegen, damit sie verbluteten.
Sie mussten ins Alqud-Krankenhaus in Gaza-Stadt gebracht werden, da sie so viel Blut verloren hatten. Sie standen alle unter Schock. Mohammed bekam acht Blutkonserven. Ich kam ins Krankenhaus und fand es voller junger Männer mit schweren Verletzungen an ihren unteren Gliedmaßen. Mohammed war in kritischem Zustand. Ich erfuhr, dass er in der Nacht zuvor operiert worden war, aber als ich nach dem medizinischen Bericht fragte, stand nichts darin. Ich hörte von meinem Bruder, dass er Brüche und Gefäßverletzungen erlitten hatte. Wegen der vielen Patienten mit schweren Verletzungen konnte keiner vom medizinischen Personal meine Fragen beantworten. Ich hatte nie zuvor so viele junge Männer vor Schmerz und Qual schreien hören. Ohne Unterbrechung kamen Ambulanzen an, die immer noch mehr Verletzte brachten. Ich dachte daran, Mohammed in ein israelisches Krankenhaus überführen zu lassen, aber was war mit den anderen? Sie waren alle in der gleichen schwierigen Lage.
Nach ein paar Tagen verschlechterte sich Mohammeds Situation noch weiter, er litt unter Fieber, dem Blutverlust und starken Schmerzen. Der zuständige Arzt erkannte den besonders bedrohlichen Zustand meines Neffen und überwies ihn an ein israelisches Krankenhaus. Ich sprach mit meinen Kollegen im Soroka, und mir wurde zugesichert, dass sie ihn behandeln würden. Doch wegen der geschlossenen Grenze zwischen Gaza und Israel sollte es noch zwei weitere Tage dauern, ehe die Überführung stattfinden konnte. Ich rief all meine Freunde an und nutzte meine Verbindungen, und endlich wurde er verlegt. Er verbrachte einen Monat im Soroka und wurde dreimal operiert. Er kehrte mit Krücken und im Rollstuhl nach Gaza zurück und brauchte noch weitere zwei Monate Physiotherapie. Später erfuhr ich, dass viele seiner Freunde, die zur Behandlung in Gaza geblieben waren, Amputationen ihrer Gliedmaßen hatten hinnehmen müssen.
Die Wendung der Ereignisse in Gaza brach mir das Herz. Wie sollte diese frische Wunde je heilen, und wie würden wir mit den Narben umgehen? Alles, was wir erreicht hatten, schien sich in sein Gegenteil zu verkehren. Die Israelis reagierten auf den Konflikt mit immer neuen drakonischen Einschränkungen, was den Zugang und den Warenverkehr nach Gaza anging. Und umso größer das Leiden im Gazastreifen wurde, umso mehr flogen Raketen auf israelische Städte in der Nähe der Grenze.
Die vergangenen zehn Jahre waren eine besonders schlimme Zeit in diesem zermürbenden Konflikt. Unsere Anführer streiten sich wie die Kinder, brechen ihre Versprechen, führen sich wie Tyrannen auf und gießen Öl ins Feuer des Konflikts. Doch die Menschen, mit denen ich spreche – Patienten, Ärzte, Nachbarn in Gaza, Freunde in Israel –, sind nicht wie unsere Regierenden. Sie machen sich Sorgen um meine Familie, so wie ich mir Sorgen um ihre mache. Wir alle klagen über die verlorenen Jahrzehnte und über die unsichere Zukunft. Dennoch glauben wir aneinander und an unsere Fähigkeit, dieses heilige Land gemeinsam zu bewohnen.
Es ist immer wieder verblüffend zu erkennen, wie ähnlich unsere beiden Völker sind, die Art, wie wir unser Kinder großziehen, die Bedeutung, die der Familie und der Großfamilie zukommt, und die lebhafte Art, in der wir gern Geschichten erzählen. Wir sind streitsüchtige, ausdrucksstarke, emotionale Menschen. Wir entstammen beide den semitischen Religionen und Sprachen. Wir haben mehr gemeinsam, als uns unterscheidet, und doch sind wir seit sechzig Jahren nicht in der Lage, die Teilung zwischen uns zu überwinden.
Wie kann es angehen, dass wir ein Leben für wertvoller erachten als ein anderes? Sehen Sie sich die Säuglinge auf einer Entbindungsstation an: Sie sind unschuldige Kinder, die das Recht haben, zu gebildeten Erwachsenen heranzuwachsen. Doch wir stopfen ihnen die Köpfe mit Geschichten voll, die Hass und Furcht das Wort reden. Jedes menschliche Leben ist von unschätzbarem Wert, und es ist so leicht durch Kugeln, Bomben oder Hass zu zerstören. Hass frisst die Seele und nimmt den Menschen ihre Chancen. Es ist wie ein verzehrendes Gift.
Seit meiner Zeit in Harvard bekomme ich viele Einladungen in die USA, um über
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