Du sollst nicht hassen
Institute. Das 1991 gegründete Institut dient als Forschungseinrichtung für epidemologische Studien und Gesundheitspolitik. Es betreibt breit angelegte Untersuchungen zu chronischen Krankheiten und begleitet die Ausarbeitung einer nationalen Gesundheitspolitik. Mich faszinierte diese Arbeit.
Als Arzt hatte ich mich viele Jahre lang gefragt, wie man den vielen palästinensischen Familien helfen konnte, die von genetischen Defekten wie der Sichelzellenanämie betroffen waren, einer rezessiv vererbbaren Erkrankung der roten Blutkörperchen, oder von Hermaphroditismus, bei dem ein Kind mit beiden, den männlichen wie den weibliche Geschlechtsmerkmalen geboren wird. Auch andere angeborene Missbildungen wie Phokomelie, eine Fehlbildung, bei der die Babys mit Gliedmaßen zur Welt kommen, die wie die Flossen einer Seerobbe aussehen, oder Anophthalmus, das Fehlen von einem oder beider Augen bei der Geburt, treten bei uns durchaus häufiger auf.
Weder die Patienten noch ihre Familien erhielten die Hilfe, die sie benötigten, und niemand forschte auf diesem Gebiet. Ich fragte mich, ob das Gertner Institute der Ort sein könnte, das Studien zu diesen Anomalien durchführen würde. Aber es gab auch andere Forschungsfragen. Das Institut führte gerade Erhebungen zu palästinensischen Patienten, die in israelische Krankenhäuser kamen, durch. Wer sind sie? Wie viele Patienten sind es, welches Alter und Geschlecht haben sie? Worunter leiden sie? Und was bedeutet das? Als Mordechai Shani mir sein Institut beschrieb, schossen mir eine Vielzahl möglicher Forschungsvorhaben durch den Kopf. Ich wusste sofort, dass ich dort arbeiten wollte. Mordechai ist ein Mann der Tat und weniger Worte, und seine Entscheidungen trifft er genauso. Nachdem ich mein Anliegen und meinen Hintergrund erklärt hatte, sagte er: »Fangen Sie sofort mit Ihren Forschungen an« – und das tat ich. Noch vor dem Ende des Jahres 2007 gehörte ich dem Team des Gertner Institute am Sheba Hospital in Tel Aviv an.
Schon meine bisherige Honorartätigkeit hatte es mir erlaubt, durch ganz Gaza zu reisen. Nun konnte ich das, was ich auf meinen Reisen an Fakten gesammelt hatte, als Teil des Problems des palästinensischen Gesundheitssystems in meine Forschungen einbringen: die Arbeitslosigkeit, die Unterversorgung aufgrund der Blockade, der schlechte Gesundheitszustand großer Teile der Bevölkerung, soziale und ökonomische Strukturen. Beinahe alles ist Ausdruck eines Verlusts. Die landwirtschaftlichen Er träge sind auf die Hälfte der üblichen Ernte geschrumpft, und die Produktivität in der Industrie ging um erschreckende neunzig Prozent zurück. Es gelangt kaum Baumaterial nach Gaza, und bestimmte Medikamente sind nicht zugelassen. Die Israelis haben die Kalorienzahl berechnet, die man zum Überleben braucht, und lassen nur das Allernotwendigste über die Grenze in den Gazastreifen. Früchte wie Aprikosen, Pflaumen, Weintrauben und Avocados, selbst Molkereiprodukte galten plötzlich nicht mehr als Bestandteil der Grundversorgung und wurden uns verwehrt.
Das verschärfte Embargo, die Einmärsche, Angriffe und Verhaftungen beeinflussten die Psyche der Menschen. Das Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) kritisierte in einem Bericht vom Dezember 2007 mit dem Titel »Verweigerte Würde in den besetzten palästinensischen Gebieten« das aktuelle Embargo:
»Die Palästinenser sind in ihrem täglichen Leben großen Härten ausgesetzt; sie werden an allem gehindert, was den Alltag im Leben der meisten Menschen ausmacht. Sie befinden sich in einer großen humanitären Notlage, in der Millionen von Menschen ihre Würde verwehrt wird, und zwar nicht gelegentlich, sondern täglich. Die Menschen in Gaza sind von der Außenwelt abgeschnitten und sitzen in der Falle. Sie sind kaum in der Lage zu überleben, denn die Familien können sich um vierzehn Prozent im Preis gestiegene Lebensmittel nicht leisten; die Rechte der Palästinenser werden Tag für Tag mit Füßen getreten. Im besetzten Gaza zahlen die Palästinenser den Preis für den Konflikt mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben.«
Wir haben gelernt, mit wenig zu wirtschaften und mit dem Mangel klarzukommen – seit nunmehr sechzig Jahren. Wenn irgendjemand glaubt, das hätte keine Auswirkung auf die phy sische und mentale Verfassung der Menschen, soll er nach Gaza kommen und es am eigenen Leib erfahren.
Die Situation ist schlicht unhaltbar. Das IKRK hält fest, dass »jeden Tag 69 Millionen Liter
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