Du sollst nicht hassen
vom Wind weggetragen. Sie war ein bemerkenswertes Mädchen, meine Bessan. Sie war gerade dabei, ihren Abschluss als Diplomkauffrau an der Islamischen Universität von Gaza zu machen. Sie schien alles miteinander vereinbaren zu können: die Betreuung der Kinder, den Haushalt und ihr Studium. Mit dem Tod ihrer Mutter begriff sie, dass ein Examen noch das Leichteste ist und dass es andere, härtere Realitäten gibt. Das zu tragen war viel für eine Einundzwanzigjährige.
Dalal, meine zweitälteste Tochter, war nach meiner Mutter benannt. Sie war im zweiten Studienjahr an derselben Universität wie Bessan, wo sie Bauingenieurwesen studierte. Sie war ein stilles, ernsthaftes Mädchen, schüchtern, wie die meisten meiner Töchter. Ihre Bauzeichnungen fand ich außergewöhnlich – sie waren Ausdruck der Genauigkeit, die sie sich abverlangte.
Shatha war in ihrem letzten Jahr auf der Oberschule und hoffte auf Bestnoten bei ihren Prüfungen im Juni, damit sie sich ihren Traum erfüllen konnte, Ingenieurin zu werden. Die drei Mädchen waren beste Freundinnen und schliefen im selben Raum unseres vierstöckigen Hauses in Jabaliya, das ich mit drei meiner Brüder gebaut hatte. Jeder von uns hatte ein Stockwerk für sich und seine Familie. Meine Kinder und ich lebten im zweiten Stock. Ein weiterer Bruder lebte woanders in einem separaten Haus im Camp von Jabaliya, und als wir das Wohnhaus bauten, sagte er, er wolle in der Nähe sein, aber seine eigenen vier Wände haben. Also bauten wir für ihn ein weiteres Haus. Mein sechster Bruder, Noor, ist seit Jahrzehnten verschwunden.
Mayar und Aya, die die achte und neunte Klasse besuchten, waren fast schmerzlich schüchtern. Manchmal baten sie sogar eine ihrer älteren Schwestern, an ihrer Stelle mit anderen zu sprechen. Aber es waren kluge Mädchen. Mayar war die beste Matheschülerin an ihrer Schule. Sie nahm an Schulwettbewerben in Gaza teil und gewann meist. Mayar wollte Ärztin werden. Sie war die Schweigsamste der sechs Töchter, aber wenn es um das Leben im Gazastreifen ging, fand sie klare Worte. So sagte sie einmal: »Wenn ich erwachsen und Mutter bin, will ich, dass meine Kinder in einer Welt leben, in der das Wort Rakete nur ein anderer Name für ein Raumschiff ist.«
Aya entfernte sich nie weit von Mayar. Sie war ein sehr aktives, schönes Kind, das gern lächelte und viel lachte, wenn sie mit ihren Schwestern zusammen war. Sie wollte Journalistin werden und war auf ihre eigene ruhige Art sehr entschlossen. Wenn sie nicht bekam, was sie von mir wollte – die Erlaubnis, Verwandte zu besuchen oder ein neues Kleid zu kaufen –, ging sie zu ihrer Mutter und sagte: »Wir sind die Töchter des Arztes, ihr müsst uns das geben.« Aya liebte die arabische Sprache, sie war die Dichterin in der Familie.
Raffah, meine jüngste Tochter mit Augen so leuchtend wie Sterne, war ein Kind, das sehr aus sich herausging, wissbegierig, ausgelassen und vergnügt. Sie war in diesem Jahr in der vierten Klasse.
Mohammed, benannt nach meinem Vater und unser erster Sohn, war ein junger Mann von dreizehn Jahren. Er brauchte väterliche Führung, und ich machte mir Sorgen, weil ich vier Tage die Woche fort war, die ich im Sheba Hospital in Tel Aviv arbeitete. Er würde im Juni die Prüfungen der siebten Klasse machen. Sein kleiner Bruder Abdullah, unser zweiter Sohn, ging in die erste Klasse, er war das Nesthäkchen der Familie. Als ich ihm zusah, wie er über die Dünen tobte, empfand ich einen besonderen Schmerz: Wie sehr würde er sich später überhaupt noch an seine Mutter erinnern können?
An diesem Tag setzten sich alle für ein Foto neben ihren Namen in den Sand. Selbst Aya und Mayar lächelten in die Kamera. Als eine Welle kam und ihre Namen fortwusch, schrieben sie sie neu, weiter oben am Strand. Für mich war das ein Sinnbild für ihre beharrliche und entschlossene Natur, die ich von mir selbst kannte. So zu handeln ließ ihre Fähigkeit erkennen, nach Alternativen zu suchen, wenn Situationen aussichtslos erschienen. Sie beanspruchten dieses kleine Stück Land für sich – mit dem Gefühl, dass sie hierher gehörten und sich nicht auslöschen lassen wollten. Es schien mir ein Bild zu sein für die Entschlossenheit, mit der die Palästinenser ihr Land wiedererlangen wollten. Und es machte mir ebenso deutlich, dass für meine Kinder die Erinnerung an ihre Mutter niemals ausgelöscht werden würde, sondern dass sie sie in einem anderen Licht immer wieder neu schreiben würden. Sie
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