Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
Schreien änderte nichts, es kostete nur noch mehr Kraft.
Er setzte sich ein Stück von ihr entfernt auf den verblassten Perserteppich und sah sie an, und einen Augenblick lang meinte sie, in seinem Blick so etwas wie Unentschlossenheit zu erkennen. Ein schwer zu deutender Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er rieb sich die Stelle am Kopf, wo sie ihn mit dem Spazierstock getroffen hatte.
»Das hat richtig weh getan.«
»Gut so!«
»Du bist eine echte Kämpferin. Du kannst dich so zusammenreißen! Du bist unglaublich.«
»Verschon mich.«
Er stand auf, verließ den Raum und kam mit einem Glas Wasser und einer Tablettenpackung wieder. Beides stellte er vor sie hin.
»Ich habe nur Paracetamol, aber die müssten auch für den Fuß gehen. Der tut bestimmt sehr weh.«
Sie spuckte nach ihm. Mehr war ihr nicht geblieben. Es sah aus, als wollte er etwas sagen, doch dann entschied er sich dagegen. Er fuhr sich nur langsam mit einer Hand übers Gesicht und schaute sie unverwandt an. Dann ging er wieder, und nach einer Weile hörte sie, wie der Traktor angelassen wurde. Durchs Fenster konnte sie zusehen, wie er Bahn um Bahn über den Rasen zog und dabei immer näher ans Haus herankam.
Nicky zwang sich zur Ruhe. Sie wischte die Tränen fort, schneuzte sich in einen Zipfel ihres Kleides und strengte sich an, logisch zu denken. Als Erstes drückte sie mehrere Tabletten aus dem Blisterstreifen und schluckte sie. Dazu leerte sie das Glas. Dann atmete sie tief durch. Ich bin mit Menschen verbunden, sagte sie sich. Und atmete ein zweites Mal tief durch. Ich bin jemand, der vermisst werden wird. Ich habe Verwandte, Freunde, Kollegen. Die werden es merken, und sie sind Leute, denen man glauben wird, wenn sie Wirbel machen und mich als vermisst melden. Das stärkte sie schon. Greg würde es als Erster merken, nur war er mehrere Zeitzonen und Tausende Kilometer weit weg. Bis seine Mitteilungen, dass er sich um sie sorgte, in London an die richtige Adresse kamen, konnten Tage vergehen – eine Ewigkeit. Sie sah den Traktor wenden, bald hatte er den Rand der Rasenfläche erreicht. Es war nicht sicher, ob ihr noch mehrere Tage blieben.
Ihr Blick schweifte hinüber zum See und den Feldern dahinter. Auf dem Land wimmelte es von Leuten, gerade bei diesem Wetter. Irgendjemand würde auftauchen. Vielleicht machte er einen Fehler.
Als sie ihr Gewicht etwas verlagerte, schlugen die Handschellen klappernd gegen das Rohr. »Vielleicht« war nicht genug. Ihr fiel wieder ein, wie sie an dem großen Tor gehangen hatte, wie es unter ihr in den rostigen Angeln geschwankt und gewackelt hatte, dass sich ihr der Magen umdrehte. Fast hätte sie es geschafft. Er hatte das nicht vorhergesehen. Sie hatte ihn überrascht. Sie kannte ihn nicht, aber er kannte sie auch nicht. Das würde sie sich zunutze machen.
Er mochte derjenige sein, der die Regeln bestimmte, aber Regeln, hätte Greg gesagt, waren dazu da, gebrochen zu werden. Das Bild ihres Mannes stand ihr vor Augen, und plötzlich traf seine Abwesenheit sie wie ein Schlag in die Magengrube. Er hatte die größte nur denkbare Herausforderung gemeistert – hatte überstanden, dass seine Frau ermordet worden war. Jetzt musste sie an sich glauben, daran, dass sie das hier überstehen konnte. Trotz regte sich in ihr, als sie sich den wundgescheuerten Arm rieb. Am Sofa vorbei und durch die offene Salontür sah sie die Füße des Toten, Beweis für den erbitterten Kampf, der hier stattgefunden hatte. Sie starrte auf die Falten, die der Teppich geschlagen hatte.
Ihre Gedanken färbten sich düster. Vielleicht war sie glücklich gewesen, und mit dem Glück war es irgendwann vorbei. Sie meinte, Gregs tiefe Stimme zu hören: »Überleg doch mal, Süße, was würde Bruce Willis jetzt tun?« Er hätte ein ärmelloses T-Shirt an und würde den Bösen mit einer Uzi wegpusten, dachte sie. Unweigerlich fiel ihr der Waffenschrank in der Diele ein, doch sie verwarf den Gedanken sofort. Immer hatte Greg doch nicht recht. Zwei Tage zuvor hatte sie zum ersten Mal überhaupt eine Waffe in der Hand gehalten. Sie wusste nicht, ob die Gewehre geladen waren und wo die Munition aufbewahrt wurde. Sollte es ihr tatsächlich gelingen, diese Handschellen loszuwerden, brauchte sie eine andere Taktik, die sie hier wegbrachte. Sie musste es mit Reden schaffen.
Oder mit etwas anderem. Sicher, er hatte sie in ein Nachthemd von seiner Mutter gesteckt, aber es hatte eine Zeit gegeben, da war er scharf auf sie gewesen und nicht
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