Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
die Mutigsten meiner Gruppe zu Julia vorgekämpft. Sie liefern sich wilde Schlachten mit der entfesselten Meute. Einer von Julias Verteidigern schlägt mit einem glühenden Ast auf die Angreifer ein. Glimmende Kohle fällt vor Julia auf den Boden. Julia ergreift sie und drückt sie gegen den nackten Bauch eines ihrer keuchenden Peiniger. Doch der reagiert überhaupt nicht. Julias Kräfte schwinden. Einige unserer Helfer schaffen es gerade noch, sie in ein Zelt zu zerren. Halb ohnmächtig hüllt sich Julia in eine am Boden liegende Decke.
Nun greift der Mob das Zelt an. Es wankt und droht einzustürzen. Julia bittet einen bärtigen Mann, der bei ihrer Verteidigung verletzt wurde, um seine Jogginghose. Er zögert. Er als Mann soll einer Frau seine Hose geben? Doch dann nickt er. Er hat ja noch eine lange Unterhose darunter. Verschämt reicht er Julia die Hose. Ein anderer gibt ihr seinen Kapuzenpulli.
In der Zwischenzeit dränge ich, umringt von mittlerweile 30 jungen Männern, die niemanden in meine Nähe lassen, hinter der entfesselten Meute her. Immer wieder bitte ich meine Hilfstruppe, die Polizei und einen Krankenwagen zu rufen. Ich versuche mehrfach, meinen Beschützern zu entkommen, um irgendwie zu Julia vorzudringen. Doch sie bilden eine undurchdringliche Wand zwischen mir und dem tobenden Mob.
In der Ferne höre ich den Krankenwagen. Ich sehe nicht, wie er sich einen Weg durch die Menschenmasse kämpft. Wie seine Besatzung das Zelt aufreißt und die blutende Julia auf einer Bahre durch die gierig gaffende Menge in den Krankenwagen trägt.
Um die Ambulanz herum liefern sich Angreifer und Verteidiger Julias erneut eine wilde Schlacht. Der um seine Beute betrogene Pöbel versucht, das Sanitätsauto zu stürmen. Er bringt den Wagen zum Schaukeln und trommelt wild gegen das Gefährt. Doch der Fahrer schaltet Blaulicht und Sirenen an und fährt los.
Vom Handy eines meiner Begleiter gesteuert, fährt der Krankenwagen auf uns zu. Verfolgt von einem Teil der grölenden Bande. Meine Beschützer halten die Ambulanz für einige Augenblicke an. Mit ihren Körpern bilden sie eine Gasse zum Wagenende. Für Sekunden wird die hintere Tür aufgerissen. Ich werde durch den Korridor gestoßen und in den Wagen gezerrt. Dann schließt sich die Tür. Durch das Vorderfenster reicht einer von Julias Helfern dem Fahrer noch schnell ihre Kamera. Dann verriegelt dieser das Fenster. Wütende Hände schlagen gegen den Wagen. Doch der fährt unbeirrt los.
Drinnen wollen sich fünf Sanitäter um mich kümmern. Ich gehe an ihnen vorbei. Ich sehe nur Julia. Mit weit aufgerissenen, verzweifelten Augen, blutenden nackten Füßen, zitternden blauen Händen sitzt sie auf einer Bank. Völlig in sich zusammengefallen. Die viel zu große Hose und der weite Männerpulli sagen mehr, als sie erzählen könnte. Ich lege den Arm um ihre Schulter und drücke sie an mich. Ich will nicht, dass sie sieht, dass auch ich Tränen in den Augen habe. Tränen der Wut, der Scham und des Mitleids.
Einen Augenblick denke ich an all die Revolutionsromantiker dieser Welt. Sie wissen nicht, wovon sie reden. Sie wissen nichts von der dunklen Seite der Revolution. Aller Revolutionen und Gegenrevolutionen. Von der Explosion der Massen, wenn aus Teilen des Volkes Pöbel, aus Menschen Tiere werden. Wenn aus einigen all das hervorbricht, was uns die Zivilisation über die Jahrtausende aberzogen hat. Der Weg vom Tier zum Menschen war lang, der Weg zurück ist kurz. In allen Ländern der Welt. In Ost und West. Zu allen Zeiten. Kaum etwas hat mich mehr frustriert als die Lektüre vieler tausend Seiten über die Französische Revolution.
Der Fahrer will Julia in »sein« Krankenhaus fahren. Aber Julia will nicht mehr mit anderen Männern in einem Raum sein. Auch nicht mit Ärzten. Ich bestehe darauf, dass wir ins Hotel fahren. Ich sage es sehr hart. Ich spüre, dass Julia kurz vor dem völligen Zusammenbruch steht. Sie will das Blut, den Dreck loswerden, die an ihrem zitternden Körper kleben. Die Spuren der Hände. Der Fahrer tut uns den Gefallen, obwohl er vertraglich verpflichtet ist, Julia in das Krankenhaus zu bringen, das ihn geschickt hat.
Am Hotel angekommen, darf Julia nicht aussteigen, weil sie keinen Pass mehr hat. Fassungslos bitte ich den Hotelmanager um Unterstützung. Julia sei angemeldet, ihr Gepäck längst da. Ich biete sofortige Barzahlung an. Der Manager schüttelt den Kopf. Ohne Papiere dürfe sie das Hotel nicht betreten. Zornig schildere ich dem
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