Du sollst nicht töten!: Plädoyer für eine gewaltfreie Ernährung (German Edition)
dabei auf ein nur instinktives Geprägtsein reduzieren, das keinen Raum für Individualität lässt.
Clärchen betreute die Jungen vorbildlich, und noch heute tritt sie bei der Fütterung zu deren Gunsten zurück, obwohl sie inzwischen größer sind als sie selbst. Clärchen ist trotz ihrer kurzen Beinchen in der Lage, weite Strecken zurückzulegen. Zirka alle drei Wochen unternimmt sie eine ausgiebige Wanderung, meist ins nächste Dorf höher am Berg. Dadurch ist schon das Gerücht entstanden, dass es auf der Rigi wilde Schweine gibt.
Im täglichen Umgang mit den Tieren fällt mir immer wieder auf, wie hochsensibel sie auf meine innere Verfassung reagieren. Wenn ich den Stall betrete und wegen irgendeiner Angelegenheit ärgerlich, bedrückt oder nicht ganz präsent bin, wieseln die Tiere nicht wie sonst freudig grunzend um mich herum, sondern gehen auf Abstand und schauen mich aufmerksam an. Sie können sich nicht hinter Worten und Konzepten verstecken, sind immer im Hier und Jetzt, eins mit Körper und Geist, ganz authentisch in ihrem Ausdruck und somit umso verletzlicher. Ob sie bemerken, wie unsere Körpersprache von Getrenntheit spricht?
In dem Zusammenhang steigen manchmal Erinnerungen an mein erstes Klosterjahr auf. Die Novizenmeisterin erzählte damals von der Tugend der Einfältigkeit des Heiligen Franziskus. Heute wird diese Haltung wohl eher in Dummheit uminterpretiert, damals aber war damit ein ungetrenntes, stimmiges Sein ohne Schein gemeint – klar, transparent, offen, frei von Hintergedanken. In dieser Hinsicht haben die Schweinchen die Lehren des Heiligen Franziskus gewiss besser umgesetzt, als ich es jemals könnte.
Neben der Tierschutzstelle führt ein Bergweg vorbei. Einmal begrüßte uns eine Gruppe von Wanderinnen mit den Worten: „Grüezi miteinand!“ Etwas nachdenklich fügte eine Frau dann hinzu, dass sie normalerweise nicht auch Schweine, Ziegen und Schafe begrüße, aber fügte sie hinzu: „Ihr seid so eine schöne Einheit.“ Ja, da scheint es eine Sehnsucht zu geben, die wir alle tief in uns tragen, nach etwas, das wir kennen, aber verloren haben – nach unserer ursprünglichen Ganzheit.
Im Alten Testament/Genesis gibt es eine Geschichte, die diese Qualität beschreibt. Dort wird erzählt, dass die Menschen die Sprache der Tiere verstehen konnten, als sie mit dem Göttlichen noch ganz verbunden waren – in „Gottunmittelbarkeit“ lebten, wie Ladislaus Boros es ausdrückte. In dieser Einheit waren die Menschen mit sich selbst und den Tieren eins. Bis sich dann Getrenntsein auftat und sich die Menschen als Vereinzelte, als Herausgefallene aus den Zusammenhängen der Schöpfung empfanden. Die Tiere aber sprechen wohl eine Tiefe in uns an, nach der wir ständig suchen und in der wir zu Hause sind wie sie. Und wenn es so ist, dass ein mit dem Göttlichen, mit dem Urgrund des Seins versöhnter Mensch sich selbst und den Tieren näher sein kann, dann lässt sich diese Wahrheit auch von der anderen Seite her erkennen: Die Nähe der Tiere öffnet uns die Augen für die unzerbrochene Einheit, für die Erkenntnis, im selben Boot zu sitzen. Sie können uns zurückführen zur Quelle aller Spiritualität und Erlöstheit. Sie warten dort auf uns.
„Wenn alle Wesen so nahe wie unser eigenes Kind sind, wie kann ich so, wie ich bin, den Übenden erlauben, das Fleisch ihres eigenen Kindes zu essen.“
Buddha, ca. 563 - 483 v. Chr., Begründer des Buddhismus, Erleuchteter
Abschlussworte
„Wenn du keinen Menschen töten kannst – gut; kannst du kein Vieh und keine Vögel töten – noch besser; keine Fische und Insekten – noch besser Bemühe dich, so weit wie möglich zu kommen. Grüble nicht, was möglich ist und was nicht –
tue, was du mit deinen Kräften zustande bringst – darauf kommt alles an.
Leo Tolstoi, 1828-1910, russischer Schriftsteller
Stellen Sie sich vor, wir würden alle in einer Welt mit frischer Luft, sauberem Wasser, mit grünen, kraftvollen Wäldern, bunten Wildwiesen mit vielen farbenprächtigen, duftenden Blumen und gesunden, mit Leben erfüllten Ozeanen leben. Wir Menschen gingen alle gemeinsam den Weg des Herzens, den Weg der Liebe und des Friedens. Wir unterstützten uns gegenseitig, lebten und handelten zum Wohle aller. Niemand würde ausgeschlossen. Jeder und alles – Mensch, Tier und Natur – würde geachtet, respektiert und mit Liebe behandelt. Nicht nur unsere Handlungen, auch unsere Gedanken, Gefühle und Worte wären durchdrungen von Liebe, Güte,
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