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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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den linken Fuß vor den rechten gesetzt, das sei das Letzte, was sie wisse. In diesem Moment spürt sie den Kopfschmerz, sie hat eine riesige Beule am Hinterkopf, ein Hörnchen, wie ihr Vater sagen würde.
Heiliger Bimbam, jetzt verstehe ich Sie.
Zum Glück gibt es Zeugen, die gesehen haben, wie es passiert ist. Die Kellnerin der Cafeteria. Zwei Frauen, die am Nebentisch saßen. Man kommt zu der Ansicht, dass es eher kein Anfall war.
Glaubt man ihr etwa?
Ehe sie die Frage beantworten könnte, schreibt man den Erregungsherd zur Fahndung aus: EEG, vorsichtshalber.

Wieder und wieder setzt sie das Vergangene rückwärts neu zusammen, mit den kleinen und größeren Stücken, die sie hervorkramt. So ungefähr. Aber stimmt das? Nie hat sie so viel Zeit damit zugebracht, erinnern zu üben. Es klappt nicht schlecht, findet sie, nur die letzten Wochen, Monate vor dem Ereignis, das ihr schließlich das Innerste nach außen beförderte, sind nur bruchstückhaft zugänglich. Ihr vermeintlicher Entschluss, zu Hause auszuziehen, steht ganz allein da und zieht nichts nach sich. Nicht, ob sie Lottchen mitnehmen wollte. Hatten sie vielleicht sogar den Verkauf des Hauses geplant? Oder war der Entschluss hinfällig geworden? War das Aneurysma donnernd dazwischengeschlagen, oder hatten sie sich schon zuvor auf irgendetwas geeinigt? Irgendetwas, das ihr, von heute aus betrachtet, den Rest Leben verhagelte oder aufhellte, den sie sich eben nicht streitig machen lassen wollte? Wie waren sie verblieben, was war der letzte Stand gewesen? Warum sprach Matthes darüber nicht? Unsicherheit lässt den Blick entrücken. Keine Ahnung, ob sie Konzentration und Kraft wird aufbringen können, ihn danach zu fragen.
Wenn sie jetzt eine Behinderte ist?
Ja, sie kann vorläufig gar nicht alleine leben. Im selben Moment ist ihr, als sähe sie die kleine Wohnung vor sich, die sie gerade erst angemietet hat, zwei Zimmer, Balkon, Küche, Bad, sieht sich darin am Schreibtisch sitzen, kochen, Matthes empfangen, der Lottchen abliefert. Dann aber die Erlösung: nein, das war jenes Quartier, das sie während des Stipendiums bewohnte, wo war das doch gleich? Und wann?
Nichts.
Erst einmal nichts …
Aber jetzt wird es deutlicher, sie hatte den Schreibaufenthalt zur Hälfte mit, zur Hälfte ohne Lottchen verbracht, hatte die Lottchenzeit als Zweierurlaub genossen und sich nicht um das Manuskript geschert, das im Laptop steckte und sich zunehmend entfernt hatte von ihr, bis sie es zu Hause wieder heraus und alles weiterlaufen ließ. Sie befragte sich eindringlich: Das Lottchen der Erinnerung unterschied sich eigentlich nicht von jenem, das sie in den letzten Tagen gesehen hatte, es konnte also nicht lange her sein, Winter, die Bäume kahl, das platte Land unter grauem Öl erstarrt, sie hatten sich manchmal in einem Restpostenmarkt herumgetrieben, wo sie, ja, Weihnachtsgeschenke gekauft hatten, Lottchen mit dem kleinen Fahrrad, sie mit dem großen, sie waren dafür aus dem Ort hinaus ins Gewerbegebiet gefahren, hatten die Fahrräder angeschlossen und sich die Zeit vertrieben im Markt, behängt, bepackt waren sie den Weg wieder zurück ins alte Gutshaus geradelt, hatten schließlich zwei große Pakete gepackt und abholen lassen von der Post, ehe sie sich selbst in den Zug gesetzt hatten und nach Hause gefahren waren, den Rucksack voller getrockneter Früchte, mit denen sie den Daheimgebliebenen das Weihnachtsfest auf unorthodoxe Art hatten versüßen wollen, ein Fest ohne Schokolade sollte das werden, die aber dann doch, natürlich, mitten hineinplatzte und bejubelt wurde, während die Früchte noch lange unbeachtet ihr Dasein fristeten im familiären Fach, in einem Schuhkarton, den Matthes dafür geopfert hatte aus seinem unerschöpflichen Vorrat. Das war es: Das letzte Weihnachtsfest hatte die Stipendienzeit geteilt, vorher war sie für drei Wochen in Nottuln gewesen und nach Silvester ebenso, im – Münsterland? Hieß es so? Ja, jetzt sieht sie den Münsteraner Bahnhof und die Buden davor, die nach altem Fett für Fisch, Pommes und Burger rochen, sie trägt den roten Koffer, nein, zieht ihn an der Hand hinter sich her wie an der anderen Lottchen, die blaue Tasche vorm Bauch, also Geld und Karten, um die sie hier fürchtet, in diesem Gedränge, sie muss auf den Bus warten, der irgendwann in der unablässigen Folge der Busse auftauchen wird, nie nach Fahrplan, nie vorhersehbar, was sie aber noch gar nicht weiß, als sie jetzt zum ersten Mal hier steht und nachsieht,

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