Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Helene hatte zum ersten Elternabend der Klasse einen Vortrag vorbereitet. Die Lehrerin, frisch von der Fachschule, hatte es sich gewünscht. Wie verhelfe ich meinem Kind zu einem konzentrierten, fröhlichen Schulanfang? Dies und das, auch Fernsehen. An der hinteren Klassenzimmerwand hing eine Abbildung von Samson aus der Sesamstraße. Fernsehen war ihr suspekt, aber wenn es denn sein musste, so waren die Sendung mit der Maus und die Sesamstraße gut und sehenswert. Sie hatte es einfach so dahingesagt, weil Samson ihr zulächelte. Welche Welle zuerst kam? Die erheiterte der Klassenelternmannschaft. Als Helene aber am nächsten Morgen Bengt in die Schule brachte, war da kein Bild mehr von Samson an der hinteren Wand, dafür lag eine Einladung zum Gespräch mit der Parteileitung der Schule auf dem Tisch der Junglehrerin. Die Parteisekretärin hatte eine Tochter in Bengts Klasse und sich berufen gefühlt, die zweite Welle loszutreten, die nun nicht mehr erheitert, dafür aber lächerlich war, sodass die Wirkung auf Helene die gleiche geblieben war: Belustigung. Aber mit bissiger Unterspur. Das Samsonbild hatte die Sekretöse noch am gleichen Abend von der Wand gerissen, wie die Lehrerin ihr hinter vorgehaltener Hand zwischen Tür und Angel zugezischt hatte. Ein folgenloses Ereignis, diese Borniertheit war nicht Sache der Lehrerin, die aber zu unsicher war, sich nicht zu entschuldigen. Sie habe gar nicht gewusst, um wen es sich auf dem Bild handelte.
Ja, woher wissen Sie das denn eigentlich, Frau Parteisekretärin?
Stille, vernagelte Miene, dann Scham- oder Zornesröte, was nicht ganz klar wurde, denn keine Antwort war auch eine Antwort. Die Genossin hatte die Sache von da an unter den Tisch gekehrt und sich selbst beweihräuchert mit dem Akt der Gnade, den sie habe walten lassen. Die Lehrerin fühlte Helene gegenüber fortan gewissermaßen ein Stück bitternder Verpflichtung, aber die hatte es einfach beiseitegefegt, und auf ihren Sohn war kein Schatten gefallen. (Bengt fragte zwei Jahre später im Marxengelsunterricht, vermutlich Heimatkunde, sehr ernsthaft, warum die Arbeiterklasse denn einen Fabrikanten, der Engels ja ohne Frage gewesen war, und damit einen Kapitalisten verehre. Das hieße doch, dass auch Kapitalisten gute Menschen sein können.)
Noch ein Beispiel? Mitte der Achtziger hatten sie plötzlich ein Telefon bekommen. Matthes’ Idee, dass die Sicherheit sich eingeklinkt haben könnte, hatte sie paranoid gefunden, bis eines Tages, sie hatte früh am Morgen den Hörer neben den Apparat gelegt, weil Lissy sich ein Pfeiffer’sches Drüsenfieber aus dem kleinen blaufleckigen Körperchen schlafen sollte, und war auf einen Kaffee zur Nachbarin hinübergegangen, ebendieser Hörer auf der Auflage lag, als sie wiederkam. Wo er hingehörte, wo sie ihn aber, beschwor sie, nicht deponiert hatte. Wieder und wieder war sie den Tagesanfang durchgegangen, sah sich aber beständig den Hörer abnehmen, nicht auflegen. Nie hatte sie klären können, ob in einem unbedachten Moment nicht die Ordnungsliebe obsiegt hatte, aber der Sicherheitsstachel fing an zu jucken, wurde dicker, größer, bis er Matthes das Telefonieren verleidete, Helene aber zu immer größerem Spaß verhalf: Für die Apparatschiks zum Mitschreiben , sagte sie jedes Mal laut und deutlich, wenn es darum ging, mit Freunden Termine oder Treffpunkte abzustimmen. Es war ein schleichender, sich einschleifender Übergang zur Courage gewesen. Mitte der Achtziger war der Film der Trotta über die Luxemburg auch diesseits der Sesamstraße gelaufen. Der Halt, den sie an dieser Boje fanden, gab der eigenen Stimme wenigstens den Anflug eines härteren Tons, wenn sie sich gegen die bornierte Dummheit tagaus, tagein ein paar Ausbrüche erlaubte. Wie das damals funktionierte, kann sie nicht wiederherstellen. Ein Film als Boje, ein Buch als Brüstung … So lange das auch her war, so tief war sie doch geprägt gewesen davon, dass sich das Leben zwischen den Zeilen abspielte und nicht von jedermann verstanden wurde. Heute sagten ihr Bücher von damals auch nach langem und eingehendem Befragen nicht, was sie groß gemacht hatte und zur Reling, über die man hinausschauen konnte nach anderswo. Alles ist relativ , muss sie nun denken. Alles ist gefangen auf seinem kleinen historischen Gartenstückchen, und wenn man nicht mehr in der Lage ist, das Land zu bewirtschaften, muss man Platz machen.
Platz machen.
Augenblicklich wird ihr kalt.
Matthes holt eine Jacke, legt sie ihr um
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