Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
die Schultern.
Ach, Matthes.
Matthes ist wieder weg, hat Heidemühlen auf morgen vertagt. Sie ist mit ihm aus dem Haus bis zum Einlass gefahren, das Heben und Senken der Schranke dort beschert ihr ein ungutes Empfinden. Als würde die Luft beständig abgeschnitten und nur schwallweise aufs Gelände gelassen. Hastiger Abschied, sie schiebt Matthes sogar mit dem linken Arm von sich, um schnell umkehren zu können und die Schranke nicht mehr sehen zu müssen. Wie spät es ist? Siebzehn Uhr, denkt sie nach einem Blick zur Sonne. Ohne dass sie etwas davon verstünde, hat sich ihr mit den Jahren eingeprägt, wie Matthes die Uhrzeit einschätzt. Er hat immer ungefähr recht, die Toleranz würde sie mit einer halben Stunde veranschlagen. Auch Himmelsrichtungen sind kein Problem: Er richtet den Zeiger seiner Analoguhr auf die Sonne aus. Auf halber Strecke zwischen dem Zeiger und der 12 -Uhr-Marke liegt Süden. Dass ein Kirchturm nach Westen, der Altar hingegen nach Osten zeigt, hatte sie nicht von ihm lernen müssen, aber er hatte ihr gezeigt, dass Bäume auf freiem Feld meist nach Osten geneigt stehen, da der Wind öfter von Westen her bläst als aus anderen Richtungen. Dass die Jahresringe frei stehender Baumstümpfe auf der Südseite breiter sind. Dass Moos an Bäumen, die Wind und Wetter ausgesetzt sind, auf der Nord-West-Seite wächst. Jungenleben, das er hinter sich hat. Ihre Füße in den dunkelblauen Sandaletten wollen springen wie Jungenfüße, über den Graben neben dem Haupteingang, über die Bänke, indem sich der rechte Arm auf die Lehne stützt und der Körper in einem Zug beide Beine darüber hinwegsetzt, über die Linien zwischen den Betonplatten auf dem Weg zum Parkplatz oder über den Zaun, der ein leer gezogenes Gebäude auf dem Gelände umschließt wie ein im Dreimeterabstand festsitzender Riemen. Es zuckt in den Füßen, sie möchte, sie will, sie stellt den Rollstuhl fest mit der Bremse und zieht sich hoch am Tisch der Cafeteria.
Als sie wieder zu sich kommt, wird sie auf der Trage in ihr Zimmer gefahren, Carola zieht den Rollstuhl hinter sich her.
Na, Helenchen, war’n ditte mal wieder?
Ah, Hartmut … Wie kommt der denn hier rüber auf die stroke unit ? Und wie kommt sie überhaupt auf diese Trage? Trödelndes Erinnern, die Stückchen fügen sich nur langsam, sie hatte versucht, aufzustehen, wollte sie nicht springen?
So ein Jungenleben hat es eben in sich.
Man hat die Computertomografie ihres Schädels nach dem Sturz wiederholt. Sie erfährt es am nächsten Morgen bei der Visite, man wollte erneute Blutungen als Ursachen für ihren Bewusstseinsverlust ausschließen. Ob es ein epileptischer Anfall war, ist für die Ärzte offenbar noch nicht geklärt.
Epileptischer Anfall?
Sie will aufbrausen.
Das Jungenleben!
Mit dem Ruf zischt Atem ab, ganz luftleer ist sie danach, möchte tief einatmen, verhechelt und verschluckt sich, fühlt die Kraft nicht, die nötig wäre, das abzuhusten, Luft!, Luft!, ihr Körper krümmt sich ins Kissen, wo er doch lieber aufginge im warmen Atemstrom, die Angst kommt von hinten, aus dem Nacken, umschließt die Gurgel mit festem Griff und macht den Luftweg ganz zu, sie gurgelt, veratmet sich stoßweise, Sauerstoff, fällt es ihr ein, Sauerstoff heißt das Zeug, das ihr zu fehlen beginnt, Sauerstoff mit au, wie Augenblau, wie Laubbaum, auf fauler Haut, auf der Lauer, aufatmen, aufatmen … es bewegt sich was, es räuspert sich, etwas macht den Weg frei, den Luftweg, vorsichtig, stückweis, es macht, dass der Angstgriff sich lockert, wieder schließt, sich lockert, nun doch, und langsam, sehr langsam kann nun sie nun wieder (versucht es) Atem holen, von weit her, über Umwege, Schleichwege, am Zäpfchen vorbei, durch den Kehlkopf hindurch, dessen Deckel doch besser schließen sollte als eben, als sie sich so heftig verschluckte, nein, nicht sich, sondern Speichel, den sie nun mühsam hinausbringt, hat sie’s geschafft? Die Augen der Visitemannschaft starren sie an, ein Arzt im Praktikum hat ihr den Arm unter den Oberkörper geschoben und sie aufgesetzt, eine Schwester schaut erschrocken, der Chefarzt bedächtig.
Na, sie hat es geschafft.
Das wird Ihnen jetzt öfter passieren , sagt der Chefarzt. Lähmungsfolge.
Aber epileptischer Anfall?
Sie fragt es laut in die Runde und setzt zur Erklärung an, dass sie mit den blauen Sandaletten habe springen wollen, die Füße haben gezuckt, als ginge das, sie wollte es ausprobieren und einfach aufstehen und losgehen, losspringen, sie habe
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