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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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verdammten Schädel. Das muss nicht erneut einprogrammiert werden, nein, das ist drin und das bleibt so. Aber hat er es in der Vergangenheit gesagt? Nun dreht sie den Kopf zu ihm.
Was?
Ich liebte dich, seit ich dich zum ersten Mal sah. Noch immer geht sein Blick draußen spazieren, hat ihren wohl nicht getroffen.
Ja, tatsächlich Vergangenheit. Und Gegenwart? Gilt das noch? Liebt er sie noch immer? Wie soll sie das rauskriegen … Sie wird fahrig. Ihre linke Hand wandert die Außenlinie des Kehlkopfes entlang, erforscht die Bratwurst unterm Kinn. (Noch da.) Geht hinauf zum Stoppelhaar, nimmt die Pickelstümpfe unter die Finger. (Unverändert.) Ja, sie ist hässlich, wo soll da Liebe sein, eigentlich ist es ganz einfach, sie weiß nicht, was sie denken soll.
Gibt es andere Wörter für Liebe?
Ihr fällt keines ein.
Was fällt ihm ein, von Heidemühlen anzufangen. Das ist ihr zu viel, sie ist doch auf ganz anderer Schiene unterwegs, hat einen Kloß im Hals und einen Klotz am Bein und das Klo nicht unterm Arsch! Jetzt lacht sie auf einmal, weil die Wörter in ihrem Kopf ganz von selbst und noch dazu ganz richtig gekommen sind: Sie liegt im Kampf mit den Tränen (Halskloß), mit der lahmen Seite ist es ein Kreuz (Beinklotz), und jetzt drückt es ganz schön, sie kann es nicht sagen, heftig dirigiert sie den Rollstuhl herbei und Matthes dazu, sie hineinzusetzen, und schon fährt sie los. Matthes ist unschlüssig, folgt ihr aber auf den Flur. Sie winkt ihn heran, er muss sie doch hinter der Tür aufs Klo setzen, das kann sie doch nicht alleine, und bis eine Schwester käme, wäre es mit ziemlicher Sicherheit zu spät! Sie feuert ihn an mit zischelnden Buchstabenfolgen, die sie vor lauter Aufregung wirklich nicht ordnen kann. Mit Blicken von Grandezza bis Scham. Mit scheuem Ärmelzupfen, schließlich einem schwachen Tritt mit der linken Fußspitze, und er hat endlich verstanden. Zieht ihr den Schlüpfer herunter und setzt sie auf die Brille, dreht sich um, geht zum Fenster. Die Geräusche sind eine Qual für sie, es spritzt ins Klobecken, sie kann es nicht anhalten und ihn hinausbitten, so armselig ist sie sich noch nie vorgekommen ihm gegenüber, aber es geht vorbei, und er kommt zurück, den Schlüpfer wieder hochzuziehen. Noch nie haben sie zusammen geschissen, muss sie denken.
Aber ob es dabei bleibt, weiß sie nach allem, was hier so passiert, nicht mehr.
Er fährt sie zurück, doch bei der Nische mit Vorhang stemmt sie das linke Bein auf den Boden und beharrt darauf, nicht weiterzufahren. Er kann sich ja einen Stuhl holen, ein Stückchen weiter stehen zwei, mit Blumentopf dazwischen. Als er sitzt, kommt es noch einmal: Waren wir nun politisch ?
Er lächelt nicht ein bisschen, weiche bis butterweiche Abgeklärtheit liegt auf seinem Gesicht. Die Haare streift er mit der rechten Hand, ehe sie in seinem Nacken zu liegen kommt, besser: ihn packt, die eigene Hand!, das sieht komisch aus. Das Butterweiche verschliert jetzt, und aus dem Brei ersteht ein Fratzgesicht: W-e-i-ß-t d-u n-o-c-h, i-n d-e-n A-c-h-t-z-i-g-e-r j-a-h-r-e-n …?
Hingezittert hat er das, mit verstellter Altmännerstimme und tapperndem Oberkörper, sie erinnert sich plötzlich, dass dieser Fragesatz aus seinem Mund oft gefallen war, wenn er ihr etwas ins Gedächtnis hatte zurückrufen wollen. Sie antwortet mit gleicher Mimik und Gestik, aber ohne Worte. Er versteht schon.
Mitte der Achtziger …

Mitte der Achtziger zogen sie von Henrichshorst nach Berlin, in die erste Wohnung, für die drei Kinder nicht gereicht hatten. (Heiraten? Heiraten!) Danach war sie erst einmal arbeitslos gewesen, obwohl es so etwas im offiziellen Sprachgebrauch des Landes gar nicht gab. Sie hatte Raphael kennengelernt und Sibylle, die im Kahn gesessen hatte wegen ihrer Vorliebe für oppositionelle Zirkelschlüsse. Eine Weile hatte sie sich als deren stummer Spiegel gefühlt: Sie machten den Mund auf – Helene staunte darüber, offenen Mundes. Wenn sie jetzt daran denkt, so rückt es ihr auf die Pelle wie dem Tierschützer ein zugeworfener Pelz, den er ängstlich bis ärgerlich loswerden will. Sie wehrt sich? Sie wehrt sich. Irgendetwas ist unangenehm. Hatte sie nicht Jahr um Jahr viel zu still in der Barke gehockt und war durch einunddreißig der vierzig dem Osten beschiedenen Jahre geschippert? Widerspenstigkeiten, die damals ganz hübsch wirkten, waren im Nachhinein zu lachhaften kleinen Anekdötchen geworden. Ein Beispiel? Mitte der Achtziger kam der Älteste zur Schule.

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