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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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steht vor ihr auf dem Schoß, es ist gut, einen Rollstuhl zu haben. Wenn sie den nicht hätte, wäre es schwierig, immer den Teller aufs kalte Büfett zu stellen, während die linke Hand auflegt. Sie fährt aber zweimal, weil sie auch Quarkspeise möchte. Als sie zurückkommt, erwartet sie eine Überraschung: Sie hat ein Gegenüber am Tisch. Kennt sie den nicht? Sie überlegt hin, überlegt her. Es dauert, bis es ihr einfällt: der Schadhafte aus der Unfallklinik! Seine Augen dämmern nicht mehr unter der fehlenden Kalottenhälfte, sondern schauen Helene an.
Füllen sich mit Tränen.
Na, prost Mahlzeit.
Wenn sie es recht bedenkt, ist er aber auch geschlagen. Ein Arm, ein Bein. Ob man ihm tatsächlich den Fuß verkehrt herum ans Knie genäht hat, kann sie jetzt nicht überprüfen. Er bemüht sich, sein Brot zu schmieren. Helene verspürt den Impuls, ihm helfen zu wollen. Gerade noch rechtzeitig fällt ihr ein, dass sie das auch nicht besser kann als er. Schön, dass er nicht mehr dämmert, denkt sie. Aber ihm scheint das nicht zu gefallen … Wahrscheinlich ist es noch gar nicht lange her, dass ihm sein Zustand zu Bewusstsein gekommen ist. Eine Träne tropft auf den Leberkäse, läuft unter der Petersilie hindurch und fällt in die Krümel auf dem Teller. Seine Hand zittert wie sein Mund. Sie kann doch jetzt nicht herumfahren um den Tisch und ihm ihre Hand auf den Arm legen, wo kein Arm ist! Auf den Kopf geht auch nicht, sie sieht es pulsieren und fürchtet sich. Um die Schulter ginge. Aber was würde ein um so vieles jüngerer Mann denken, wenn eine um so vieles ältere Frau, die Haare halb grau und halb braun, ihn einfach umarmte … Sie würden womöglich beide flennen und nichts weiter sagen und den lieben Gott einen weniger guten Mann sein lassen, und die verhagelte Petersilie würde den Weg in seinen Mund vermutlich nicht mehr finden.
Nein, diese Vorstellung gefällt ihr nicht.
Auf einmal hat sie keinen Appetit mehr.
Sie lässt alles stehen und liegen und flieht.

Am liebsten flieht sie zu Viola, aber ihr Gedächtnis hakt. Nach dem Freitagabend im November vergangenen Jahres ist Schluss, dabei müsste es doch noch einen ganzen Samstag und mindestens einen halben Sonntag gegeben haben!
Sie fährt zur Fangopackung mit anschließender Massage. Die Masseurin hilft ihr, den BH zu öffnen. Das ist nett. In der kleinen Kabine lässt sie sich den Heilschlamm auf Rücken und Schultern packen und ruht. Einer der männlichen Masseure, der blinde, stellt leise eine eigentlich überschäumende Musik ein, was ist das? Vivaldi, Donizetti? Sie versucht, mit dem Körper auf der Liege ein Stück höher zu krauchen, weil sie hofft, beim Zur-Seite-Schieben des Vorhanges mehr hören zu können. Vorsichtig blickt sie den Gang nach links, dann nach rechts. Erschrocken fährt sie zurück: Die Masseurin massiert den Masseur, sehr vorsichtig, küsst ihn, ganz züchtig sieht das aus, wie sie ihm mit den Händen die Rückenmuskulatur lockert, durch Kittel und Hemd hindurch, vor ihm stehend und mit geschlossenen Augen … Schnell kriecht Helene zurück, grient, freut sich ein bisschen.
Es ist Vivaldi.
Es ist sogar DER Vivaldi, Le quattro stagioni , Die vier Jahreszeiten, aber es muss eine ungewöhnliche Adaptation für Holzbläser sein. Dieser Vivaldi ist einfach nicht totzukriegen. Vor ein paar Jahren war sie in der Chiesa della Pietá gewesen, »Vivaldis Kirche« in Venedig, sie erinnert sich sehr genau. Als sie den Fremdenführer gefragt hatte, was davon denn zu Vivaldis Zeiten schon gestanden habe, denn die Kirche war erst nach Vivaldis Tod fertiggestellt worden, hatte der nur unwirsch gebrummt und war darüber hinweggegangen. Sie lächelt.
Warum erinnert sie sich so zögerlich an Violas Besuch im letzten Jahr?
Sie schließt die Augen, gerät ans Einschlummern, als ein Hieb durch die Ruhe fährt. Die Masseurin hat den Plastikvorhang beiseitegerissen. Helene muss schon wieder grienen, denn der Dutt der Masseurin ist verrutscht. Helene weiß, warum. Die Masseurin hingegen weiß davon offensichtlich nichts. Sie nimmt die Packung ab und hilft ihr in den Rollstuhl. Im Massageraum wird sie auf einen Massagestuhl gehievt, auf dem sie alle fünfe gerade sein lassen kann. Schöner Zustand. Danach noch Infrarot-Bestrahlung. Als die Lampe ausgestellt wird, ist ihr für den Moment so kalt, dass sie eine Gänsehaut bekommt. Schade, dass sie zu unbeholfen ist, sich schnell anzuziehen. Sie fragt sich, was in vorgewärmten Muskeln passiert, die

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