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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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plötzlicher Kälte ausgesetzt werden, sieht sie sich zusammenziehen, um deren Eindringen abzuwehren, und spürt der eigenen Reaktion nach. Ist nicht der Nacken schon wieder dabei, völlig zu verhärten? So, wie ihn die Masseurin vor jeder Massage beschreibt: brettharter Muskelpanzer, den sie nur schwer geschmeidig bekommt. Als sie endlich das Oberteil ebenjenes Jogginganzuges, den ihr Matthes zu seinem Geburtstag schenkte, wieder übergezogen hat, ist sie froh, ruckelt sich zurecht, um zum Fahrstuhl zu fahren, und grinst der Masseurin verschwörerisch zu, was diese aber offenbar nicht deuten kann, denn Helene bekommt nur ein beiläufiges Kopfnicken zurück. Dabei rutschen der Masseurin die Haare völlig aus dem Dutt, dass sie es endlich bemerkt und sofort versucht, dem entstandenen Dilemma beizukommen. Dabei senkt sie das Gesicht, verharrt sekundenlang in dieser Haltung, während die erhobenen Hände an der Frisur nesteln. In diesem Augenblick schießt die Erinnerung ein, wie Viola sich kämmte, sie tat es in ähnlicher Haltung, als sie die Haare in die Muranoglasspange zwang, und sie tat es am Samstagmorgen vor fast einem Jahr, als Helene die Badezimmertür aufriss, um schnell auf die Toilette zu kommen. Viola hatte vergessen abzusperren und starrte erschrocken zur Tür, und ebenso erschrocken sah Helene, Lottchens Bettnestwärme entsprungen, auf Viola, die im gestreiften Chenille-Pullover, oben herum fertig angezogen, aber noch ohne Slip oder Rock, vor dem Spiegel stand. Helenes Herz schlug zum Halse heraus, sodass sie heftig schlucken musste, um es dazu zu bewegen, im Körper zu bleiben. Instinktiv zog sie die Tür wieder zu und lief, so leise sie konnte, zur anderen Toilette unters Dach.
Warum rollen Sie denn nicht weiter? Sie versperren ja den Weg!

Der Herbst will wirklich kommen. Der Wald zum See hinunter ist ein Mischwald, die Laubbäume beginnen, sich mit bunten Farben zu übertreffen. Eine Blutbuche steht auf dem Weg zum Hang an exponierter Stelle, ringsherum wurde rasiert und Rasen angesät. Mit einer Gesichtsfeldeinschränkung, muss Helene jetzt denken, hätte sie bestimmt den Eindruck eines englischen Parks – selbst Gesichtsfeldeinschränkungen können ihre Vorteile haben. Um die Buche herum hat man eine Bank gezimmert. Aus Buchenholz? Nein, das sieht nach diesem neumodischen Bangkirai aus, dem Mahagoni-Ersatz für den Außenbereich. Ein Weg führt hin, und um den Rasen zu schonen, ist auch ein breiter Kreis um die Bank herum gepflastert worden. Helene fährt heran und traut sich, nach dem Feststellen der Rollstuhlräder allein auf die Bank überzuwechseln. Sie steht einige Male auf, setzt sich wieder. Zur Übung. Eine Frau mit hängendem linken Augenlid und einer großen, noch frisch aussehenden Narbe auf der entgegengesetzten Schädelseite setzt sich daneben.
Na?
Na so was, wie antwortet man darauf?
Na, na!, kommt es unversehens aus Helenes Mund.
Die Frau erschrickt und läuft davon, Helene möchte noch aufstehen und ihr nachrufen, aber sie kennt sie ja gar nicht … Es tut ihr leid, sie verschreckt zu haben. Kann man nichts machen. Sie nimmt die Decke aus dem Rollstuhlnetz, die sie mitgebracht hat, und wickelt sich recht und schlecht darin ein. Viola und sie hatten auch Decken mitgenommen, als sie im vorigen Jahr in der Novemberkälte, aber bei ausnehmend schönem, klarem Wetter nach Krummensee hinausgefahren waren. Sie hatten versucht, unbefangen zu tun, um jedweden Gedanken an die morgendliche Begegnung während des Frühstücks unnötig zu machen. Gegickelt und gescherzt hatten sie, die sehr weichen, heißen Eier gelöffelt, dazu das aufgetoastete Brot gegessen, das sie am Freitagabend in der Bäckerei gekauft hatten. Die eine hatte Kaffee, die andere schwarzen Tee getrunken. Unverfänglich hatte Helene dann gefragt, was Matthes denn mit Lottchen zu unternehmen gedenke, während sie mit ihrer neuen Freundin ins brandenburgische Land hinausfahren wollte. Matthes hatte nur einen Augenblick gestutzt, dann aber zu Lottchen hinübergeschaut und etwas von Vormittagsvorstellung im Kino gemurmelt: Ob sie sie dorthin mitnehmen könnten auf ihrer Tour? Natürlich. Sie hatten die beiden ausgekippt und waren weitergefahren, über Marzahn und Hellersdorf nach Altlandsberg, dann nach Krummensee hinüber. Dort gab es verwunschene Wasserlandschaften am Ortsrand, luftwurzelnde Bäume im Sumpf, sehr allein waren sie hier draußen gewesen und hatten durch die kahlen Kronen in den Himmel gesehen, der mittagsblau

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