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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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noch im Beutel. Helene packte ihre Verblüffung in einen possierlichen Blick, das konnte sie gut, das hatte sie Tausende Male geübt. Sie nahm sich ein Fläschchen aus Violas Beutel, setzte an und trank. Das Zeug schmeckte wie Boonekamp, ein Gesöff, das ihre Eltern sich gelegentlich nach fetten Mahlzeiten einverleibten, sie schüttelte sich. Auf einem Bein kann man nicht stehen? Nein, in der Tat nicht. Zweite Flasche. Viola grinste, fragte aber, wer sie denn nun nach Hause fahren solle. Helene blickte leichterdings auf die Uhr und meinte, da müssten sie es eben noch drei Stunden hier irgendwo aushalten, nich wahr?, und sie waren davongestapft, Helene mit ihren schweren braunen Schuhen, Viola in den schwarzen Stiefelettchen.
Als Helene sich noch einmal umdrehte, sah sie die Bedienung der Kneipe mit der Küchenkraft am Fenster stehen und grinsend gestikulieren.
Es wurden beim besten Willen nicht drei Stunden, die sie in Krummensee verbrachten. Dafür war es zu sehr November. Irgendwann beschloss Helene, sie wenigstens nach Altlandsberg zu fahren, das war nur zwei Kilometer entfernt, und dorthin führte eine kaum befahrene Straße. Sie könnten das Auto abstellen und was Richtiges essen gehen, dann erledigte sich das Alkoholproblem von selbst. Schließlich landeten sie beim Italiener, Treppe abwärts, Kellergewölbe. Viola steuerte zielsicher auf einen Tisch zu, der in der hintersten Nische stand. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Ecke, rechts und links hinter sich Wand. War es das, was sie sicher machte? Helene glaubte das, denn Viola geriet ohne ein weiteres Bier langsam in Gefilde, die sie bislang verschwiegen hatte. Ihr Gesicht gewann Farbe, die Lippen wurden voller, wölbten sich schließlich ganz losgelassen von jeglicher anspannenden Haltung so locker nach vorn, dass das Sprechen ihr ein wenig schwerfallen musste, wie Helene dachte. In der Tat sprach sie langsam, aber ohne Stocken. Der Tag, an dem sie sich endgültig entschieden hätte, die Operation vornehmen zu lassen, sei der gewesen, an dem ihre Frau es aufgegeben hatte, mit ihr schlafen zu wollen. Eine stille Art von Übereinkunft hätte sie gewittert, es anders zu versuchen, sie hätten sich, Rücken an Bauch, aneinandergeschmiegt, sie hätte den schlaffen Schwanz nach hinten zwischen die Beine gestopft und gewartet, und ihre Frau sei auf einmal mit einer anderen Art von Erregung auf sie zugekommen, hätte sie gedacht, einer, die ihr Frausein anerkennen wollte, sie hätte den Schwanz nicht angerührt und schließlich auf ihr gelegen, dass sie weinen mussten, vor Freude, hätte sie gedacht, und da sei der Entschluss unumstößlich geworden. Was dann kam, war das übliche Prozedere.
Helene erinnert sich, einen Augenblick die Luft angehalten zu haben – was sollte an diesem Prozedere üblich sein! –, bis ihr, natürlich, aufging, dass Viola nicht allein dastand, obwohl sie, Helene, sie bislang angestaunt hatte wie einen dreibeinigen Kometen, der mitten unter ihnen niedergegangen war. Ein Sonderfall, eine exzeptionelle Singularität! Aber das stimmt nicht, sie hatte nur keine Augen für sie, bis sie eine von ihnen kennenlernte, keine Antenne, bis eine von ihnen sehr deutlich zu ihr herüberfunkte, und das, um sie auf normale Weise einfach kennenzulernen, als normale Frau, als die sie sich fühlte, die sie aber nicht war. Als die sie sich nicht fühlte, die sie aber war? Als die sie sich nicht fühlte, die sie auch nicht war? Als die sie sich fühlte und die sie tatsächlich war?
(Helene wird schwindlig, sie kann das nicht denken, zum Beispiel hat sie mit Verneinungen aller Art, insbesondere doppelten, extreme Schwierigkeiten, seit sie zurückgekehrt ist zu den Lebenden. Aber sie spürt, dass all die Sätze stimmen könnten, je nachdem, wo man steht und sie ausspricht. Gespür geht über Verstand, ein eigenartiger Zustand …)
Das übliche Prozedere …
Sie durfte nicht verheiratet, musste dauernd fortpflanzungsunfähig sein. Eine Operation, »geschlechtsangleichend« genannt, sollte sie nach außen hin aufs Frausein einschwören. Helene erschien das als ein Sammelsurium von Zumutungen, die binäre Auffassung von Geschlecht zu zementieren. Ihr ging die Vorstellung von Bipolarität durch den Kopf, die Geschlechterverhältnisse treffender abbildete: Was sich zwischen den Polen »männlich« und »weiblich« tummelte, war nicht irgendwo außerhalb der Skala angesiedelt, sondern bewegte sich als Mensch an seiner besonderen Stelle, die er für sich fand. Ihr

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