Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
verabschieden, haben sie zusammen Früchtetee getrunken, den sie in der Patientenküche aufgebrüht hat.
Sie winkt und sieht die beiden im Fahrstuhl verschwinden.
Nicht verschwunden aus ihren Gedanken ist Viola, von der sie hier nichts hat als eine Erinnerung, die sich bedeckt, versteckt hält, bis irgendein sporadisch auftauchender Lichtstrahl sie dazu veranlassen kann, sich stückweis zu zeigen … An jenem Samstag jedenfalls war sie mit Viola in der Dorfkneipe von Krummensee eingekehrt, sie hatten nebeneinander an einem Vierertisch gesessen. Jetzt sieht sie sogar die blau-weiß karierte Mitteldecke, darauf ein Sträußchen Plastikblumen und eine Menage für Essig und Öl, Pfeffer und Salz. Ein Bier hatte Viola bestellt, Helene war nach einem Glas Wein, aber das mochte sie wegen des Autofahrens nicht riskieren. Sie brauchten etwas zum Kichern, um einander ihre Unsicherheit nicht eingestehen zu müssen. Viola zog einen Hefter voller Filmkritiken aus der Tasche, die sie in den letzten Jahren für ein Magazin verfasst hatte, und begann vorzulesen. Brad Pitt , hört Helene heute noch, Violas männliche Stimme hatte sie dazu verleitet, die Augen zu schließen, spielt den Bergbesteiger Heinrich Harrer ohne Tiefen und Untiefen … Sie lachten los über den Satz, Viola konnte es nicht lassen zu bemerken, dass die Ambiguität des Wortes Untiefe sie dazu verleitet hätte, es zu verwenden und abzuwarten, ob sich der Redakteur daran stieße, aber dem war Untiefe als Januswort nicht geläufig gewesen, er hatte es einfach als Gegenteil von Tiefe gelesen. Oder aber überhaupt nicht , hatte Helene gemeint.
Sie lachten.
Sie sammelten Janusworte.
Viola: aufheben . Helene: umfahren . Viola: fix . Helene: übersehen . Viola: Kriegsgegner . Helene: Na, so was fällt aber auch nur dir ein …
Plötzlich wird ihr heiß.
Sie befindet sich nicht im Krieg mit Matthes.
Wenn aber doch?
Ist sie Kriegsgegnerin im einen oder im anderen Sinne?
Mit solchem Januswort im lädierten Hirnkasten lässt es sich schwerlich einschlafen, verkeilt hat es sich zwischen Violas Besuchssamstag und -sonntag. Es will ihr nicht aus dem Kopf, dass sie sich womöglich im Kriegszustand befand mit Matthes, als das Aneurysma platzte. Dass es ihm passte, dass es platzte. Sie abhängig machte. Sofort schämt sie sich dieses Gedankens, aber Matthes ist so anhänglich … Erfüllt ihr Wünsche, ohne dass sie sie ausgesprochen hätte. Bringt so viel Unverzagtheit mit bei seinen Besuchen, dass sie ihm sowieso ewig dankbar sein muss. Ohne ihn hätte niemand daran gedacht, sie in die stroke unit einzuweisen, obwohl es auf der Hand gelegen hatte, dass sie dort am besten aufgehoben war, und die Rehaklinik hätte Wochen später auf der Agenda gestanden. Sie ist ihm tatsächlich, verdammt noch mal, dankbar. Dankbar wie in den ganz frühen Jahren, als sie sich sicher gewesen war, dass er der einzig Richtige für sie war. Ihre depressiven Großzackenattacken waren immerhin schwerwiegend genug gewesen, sie einmal sogar in die Psychiatrie einweisen zu lassen, aber Matthes hatte darüber nur gelacht und gesagt, dass er sie dort nie besuchen würde. So erschrocken war sie darüber gewesen, dass sie heimlich, still und leise die Überweisungspapiere in den Müll geworfen hatte und einfach nicht hingegangen war. Von da an hatten sich die Depressionen in der Periode verlängert, in der Amplitude hingegen merklich abgenommen, waren schließlich nur noch als moderate Ausschläge auf der Stimmungsskala spürbar. Zum Beispiel eben im Herbst, wenn Matthes in sein Arbeitszimmer zog. Er, der Verbindlichkeit zwar ersehnte, aber immer den Eindruck erwecken musste, in Bindungen hineingerutscht, dazu verdonnert worden zu sein, hatte sich auch in ihren einfühlenden Hang zur Selbstlosigkeit verliebt, in dem er sich sicher fühlen konnte, während sie davon fasziniert gewesen war, was er sich traute: Er war er selbst, schaute sich nicht andauernd um, was die Leute von seinen Aktionen halten mochten, war ziemlich frei von Schuldgefühlen, die ihr das Leben vergällt hatten. Es war eine glückliche Fügung gewesen, die sie zueinander geführt hatte, und im Ausbalancieren ihrer persönlichen Eigenheiten entwickelten sie so etwas wie richtiges Können. Das findet sie noch heute. Sie wurde freier und selbstbewusster, er zeigte Gefühle. Sie wagte mehr, er hielt ihr den Rücken frei. Und so weiter. Und so fort. Dennoch hatte die glückliche Fügung sie nicht davor bewahren können, einen anderen Menschen
Weitere Kostenlose Bücher