Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
Vom Netzwerk:
erschien das so logisch, dass sie sich wunderte, es nicht als allgemeinen Konsens vorzufinden in der Gesellschaft. Wenn jemand sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlte als jenem, in der sein Körper geboren worden war, dann war es seine Sache, das anzugleichen, auch operativ, oder einen anderen Weg in seinem Kopf zu finden, wie damit umzugehen war. Auf keinen Fall aber durfte man doch von ihm einen solch schwerwiegenden Eingriff verlangen , wie das Gesetz es tat! Was, wenn etwaige Komplikationen ihm das Leben schwer oder gar unmöglich machten? Natürlich hatte Viola die Operation gewollt, wie sie auch das Frausein gewollt hatte. Dennoch: Helene hatte sie kennengelernt als eher geschlechtsindifferente Person, nicht besonders gepflegt, keinesfalls weiblich aufgedonnert. An jenem Abend beim Italiener erzählte sie, wie viele Stunden sie in den ersten Jahren nach der Operation für die tägliche Körperpflege, das Ankleiden, die Zurechtmacherei gebraucht hatte. Zwei Epilationen hätte die Kasse bezahlt, dann aber, als der Bart immer wieder nachwuchs, hätte sie keine neuen Anträge mehr gestellt, weil sie es leid gewesen wäre, so viel Zeit damit zu verbringen. Überhaupt hätte sich mit den Jahren die Freude an Kleidern und Röcken sehr gedämpft, auch, weil sie einfach kein Geld mehr gehabt hätte, sich welche zu kaufen. Ihr Körper hätte sich verändert, wäre fülliger geworden, sie aber wäre aus ihren Anstellungen geflogen und oft auf Sozialhilfe angewiesen gewesen. Sie hätte es schleifen lassen, wie sie es auch als geborene Frau hätte schleifen lassen mit der Zeit. Dann eben billige Hosen, die wenigstens passten, statt in einem Übergrößengeschäft nach teuren Frauenklamotten zu suchen. Dann eben den olivgrünen Uraltparka, statt sich ein schickes Mäntelchen beim Maßschneider anfertigen zu lassen. Zum Friseur wäre sie gar nicht mehr gegangen, hätte das Haar einfach wachsen lassen und den Pony von Zeit zu Zeit selbst gestutzt, und für Schuhe hätte sie ein Versandhaus gefunden, das preisgünstig Unisex -Modelle anbot. Da die Zahl ihrer Freunde sich drastisch reduziert hätte (wobei sie zugab, auf vieles überempfindlich und verschroben reagiert zu haben, was unter den Normen, in denen die abendländische Gesellschaft nun mal existierte, eigentlich normale Reaktionen auf ihren offiziellen Geschlechtswechsel gewesen wären) und sie keiner durch feste Zeiten geregelten Lohnarbeit mehr nachzugehen gehabt hätte, wäre es einfach nicht mehr nötig gewesen, sich jeden Morgen zu rasieren – sie hätte es nur noch getan, wenn sie das Haus verlassen musste. Allein ihre Hormontherapie hätte sie aufrechterhalten, auch wenn sie inzwischen bezweifelte, was die ihr brachte: Ihre Brüstchen hätten sich nur zu flachen Spiegeleiern entwickelt, und ihre Stimme sei männlich geblieben. Sie sah sich, sagte sie, inzwischen als Frau, die trotz Operation in einem männlich gestimmten Körper lebte, und der Zwiespalt, der ihr Leben früher so entsetzlich zermarterte, hätte sich teilweise geschlossen, sei einem Sichfügen gewichen, das manchmal auch etwas wie Bedauern darüber aufkommen ließ, sich der Operation unterzogen und dem Männerkörper, der nun einmal ihrer gewesen war, so viel Unnatürliches zugemutet zu haben. Sie ging nicht so weit, den Schritt zu bedauern als einen sehr entscheidenden in die falsche Richtung, oder weil sie besser als Mann weitergelebt hätte, aber mit dem Wissen um das tatsächliche Ergebnis ihrer Geschlechtsangleichung lebte es sich offenbar nicht so leicht, wie der Gesetzgeber es gern gesehen hätte. Inzwischen, sagte sie, könnte sie sich sogar vorstellen, mit einer Frau, die sie als Frau akzeptierte, noch Kinder gezeugt zu haben – warum denn nicht? Wäre das nicht etwas, was sie anderen Lesben voraushätte? Aber sie hätte damals die dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit auf sich genommen, weil sie es nicht besser gewusst hätte in dieser Situation. Und, das war natürlich nicht zu vernachlässigen, weil sie von ihren beiden Söhnen zum Zeitpunkt der Scheidung bereits so zwangsgetrennt gewesen wäre, dass sie sich nicht hätte vorstellen können, das noch einmal zu ertragen. Ihre Frau hätte vom Zeitpunkt des Scheidungsantrages an, den Viola eingereicht hatte, alle Gemeinsamkeit aufgekündigt. (Sie war regelrecht zurückgeschnippt in einen Zustand der totalen Frustration, in dem sie – dachte Helene, nicht aber Viola – das Verschwinden ihres Mannes in eine bis ins Körperliche

Weitere Kostenlose Bücher