Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
ist lauwarm, kommt ihr aber trotzdem zunächst kalt vor. Im Wasser bleibt die Matte des Lifters zunächst um ihren Körper geschlungen, aber sie hat ein gutes Gefühl – die Therapeutin kann sie abstreifen. Mit dem rechten Arm bekommt sie zwei oder drei angedeutete Schwimmzüge hin, mit dem Bein sogar mehr. Dabei ist der Widerstand des Wassers doch größer als der der Luft? Es gibt Rätsel, die sich nicht sogleich lösen lassen … Sie bekommt eine Wasserwurst, wie die Therapeutin sagt, eine biegbare Schaumstoffrolle, auf der sie sitzen und an der sie sich festhalten kann. Das gibt Sicherheit. Am liebsten aber legt sie sich als »toter Mann« aufs Wasser und schließt die Augen. Die Geräusche, die an ihr Ohr dringen, kommen von der Pumpe unter der Oberfläche. Einschläfernde Geräusche. Aber die Therapeutin hat etwas vor mit ihr, nichts da mit Eindämmern, Weglullen. Nicht rückwärts auf dem Wasser liegen und sich treiben lassen, sondern bäuchlings, sie soll zu schwimmen versuchen, hat eine Wasserwurst zwischen den Beinen. Na gut, versucht sie es eben. Als sie das nächste Mal den Kopf hebt, sieht sie den Schadhaften , auch für ihn also Wassertherapie. Man lässt sie gleichzeitig zu Wasser, ohne Gruppe, das ist ein Privileg. Ihm bekommt es ebenso wie ihr, als »toter Mann« einfach dazuliegen, mit dem Unterschied, dass man ihn lässt. Er schaut an die Decke. Sie ist himmelblau gestrichen. Fische, Seesterne und Wasserpflanzen aus Keramik sind darin eingelassen. In der Halle brennt Licht, dadurch ergeben die Reflexionen des Wassers Lichtspiele an der Decke. Das Richtige zum Träumen, sie wünscht es ihm, wünscht ihm eine Viertelstunde Wasserreise ohne Kommandos, ohne Aufforderung, Arm und Restarm, Bein und Restbein zu bewegen. Sie ist sich beinahe sicher, dass ihm der Lebensmut fehlt, soll er ein toter Mann sein für eine Weile. Schlimm genug, aus diesem Zustand wieder aufzutauchen, denkt sie. Ob sie ihm Energie schicken kann? Davon gelesen hat sie, das als dummes Zeug und Scharlatanerie abgetan, sich nicht weiter darum gekümmert. Aber wenn sie die Augen schließt und ganz fest an ihn denkt? Ob es dann funkt? Ob er eine Verbindung spüren kann?
Sie schließt die Augen.
Sie denkt ganz fest an ihn.
Ist Ihnen nicht gut? Kommen Sie, wir beenden den Versuch …
Ehe sie etwas entgegnen könnte, hat die Therapeutin auch schon den Deckenlifter herangebeamt. Helene möchte protestieren, meint aber plötzlich, jede Aufregung vermeiden zu wollen wegen des Schadhaften . Also lässt sie sich gehorsam die Liftermatte um den Leib schnallen und sich herausheben.
Eigentlich schade. Sie muss daran denken, was Matthes an dieser Stelle gesagt hätte: Dein Helfersyndrom klickt wieder gefährlich.
Zu Recht.
Mit ihm hätte der Wasseraufenthalt länger gedauert.
Als sie aus dem Fahrstuhl fährt, sieht sie gerade noch eine große, kräftige Frauengestalt mit dunklem zusammengebundenem Haar um die Ecke wischen. Ihr ist, als bliebe ein Nachbild vom Zipfel ihres schwarzen Rocks, sie fährt darauf zu, aber es löst sich auf, wie sich die Frauengestalt selbst aufgelöst zu haben scheint. Hat sie sie nun gesehen, oder hat ihre Einbildung ihr einen Violastreich gespielt? Ja, der erste Eindruck war tatsächlich der einer gut gekleideten Viola gewesen. Helene fährt den langen Gang vom Haus zwei zur Eingangshalle in Haus eins entlang, sieht im Speisesaal und in einigen Therapieräumen nach. Natürlich keine Viola. Es war der Gang, der an den Violas erinnerte, aber eigentlich hat sie die Gestalt nur einen Schritt um die Ecke gehen sehen … Viola hat einen schweren, federnden, recht langsamen Schritt. Ob sie überhaupt rennen kann? Da sieht Helene, wie sie auf sie zukommt, mit weit aufgerissenen Armen, als sei sie das kleine Mädchen, das in die Arme ihrer Mutter springen und lachend beschützt sein will, und Helene reißt tatsächlich die Arme auseinander und fängt sie auf … Schon ist es wieder da, das Gefühl übergroßer Unsicherheit, und es ist genau jenes Gefühl, das auch das Wochenende, das berühmte, überschattet hatte. Jetzt, da sie es merkt, fährt sie auf den hinteren Freiluft-Therapieplatz, wo sich nachmittags kein Mensch aufhält, um allein zu sein und doch einen Raum zu haben für sich und ihre Erinnerungen. Viola hatte nach dem Verlassen der Kneipe von Krummensee nach nur zwei Bier eine Fahne, aber draußen zeigte sie Helene die vier Kümmerling-Fläschchen, die sie unbemerkt geleert hatte. Elf weitere, volle, klapperten
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