Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
ärgerlich und drängend, öffnet sie doch die Tür und setzt zum Donnerwetter an, aber ehe es noch hätte blitzen und grollen können, muss sie das Gesicht verziehen angesichts der versammelten Schar, grinst und kommt mit ihnen nach unten. Gibt nach. Nimmt Mareiles Pfanne im letzten Moment vor dem Anbrennen vom Herd, sie wollte sich Eier braten. Helene hat doch gekocht! Draußen auf der Terrasse steht die Suppe, der Topf ist zu groß für den Kühlschrank, und das Wetter ist kalt genug. Warum vergisst sie nur alles über ihrer Art zu arbeiten, sie hätte den Kindern doch wenigstens einen Zettel hinlegen können, auf dem geschrieben stand, dass das Mittagessen fertig ist. Nur aufgewärmt werden muss. Immerhin ist ein …
Helene?
Pietro schaut ihr fragend von unten in die Augen.
Ach ja, Pietro sitzt ihr ja gegenüber. Ansprache an den Herrn Schalk in seinen Augenwinkeln: Mach’s halblang, so lustig ist das nun wirklich nicht hier drin, kennst du Herzeleid?, Seelengram?, sie haben mir die Tage verwaschen und sitzen tief, aber davon kann ich dir jetzt nicht erzählen, hörst du?, dich nur bitten: mach’s halblang … Mach’s halblang.
Der Herr Schalk erhört die geheime Ansprache offenbar, er verschwindet aus Pietros Augen. Dankbar schaut sie ihn an, ihre Augen schwimmen jetzt ein bisschen, was? Dabei ist das ein guter Tag, ein schöner. Sie hält ihr Buch in den Händen, sie weiß wieder, wer Der Beauftragte ist und wie er ihr zu diesem Roman verholfen hat …
Pietro erzählt jetzt, dass seine Anstellung am Anklamer Theater mehr als wacklig sei, er habe keine Lust mehr auf dauernde Unterordnung in Fragen, von denen er, ja, das müsse er so sagen, mehr verstünde als der Regisseur. Die Arbeitsverhältnisse sind befristet. Weil die Sommersaison in Zinnowitz und Heringsdorf volles Programm verlangt, gehen nun viele mit dem Herbst in die Theaterferien geplanter Arbeitslosigkeit, um sich danach wieder einstellen zu lassen. Pietro meint, dass seine Zeit in Anklam in diesem Jahr abgelaufen sei. Er hat sich auch gleich etwas Neues ausgedacht: Lenz will er sprechen, in voller Länge, begleitet von einem Schlagzeuger. Lenz! Das sei ein so großartiger Text! So wissend, klug und seiner Zeit voraus! Schon vor dreißig Jahren habe ihm Lenz am Herzen gelegen, der mit Sturm und Drang über die Romantik hinweggefegt sei und die Welt nicht entziffern konnte, die er am Ende der Reise vorfand! (In Pietros Augen jetzt nicht mehr Herr Schalk, sondern Frau Schwarm. Warten wir’s ab: Gleich wird er seine Blicke in Lenzens Irre schicken …)
Er bricht ab. Er schweigt. Dann fragt er zögernd, ob sie ihm einen Vor-Text schreibt. Etwas, was man den Leuten, ehe es losgeht, anbieten könne: Für die meisten sei Lenz eine einfache Leerstelle, sie wüssten nichts über ihn, da wäre es doch besser, eingeführt zu werden. Einen kurzen Text nur, sie habe doch so was früher auch gemacht, ob sie nicht …?
Nun schweigt sie. Ach Pietro, ich habe doch meine Sprache verloren, ich muss doch erst sehen, wie weit sie sich wieder finden lässt! Natürlich sagt sie das nicht, sondern reißt, nach Sekunden des Zögerns, den Dickschädel hoch: Na gut, aber lass mir Zeit.
Pietro hat nicht verstanden, was mit ihr passiert ist, denkt sie. Kann man das überhaupt verstehen? Versteht sie es denn? Sie geht mit ihm zum Fahrstuhl, sie fahren hinunter. Schwungrad-Elli nimmt Abschied. Sie lacht noch, solange sie ihn sehen kann, denn etwas anderes hat sie eingeholt.
Sie weiß nämlich seit zwei Stunden, wie Maljutkas Glasspange in ihre Tasche geraten ist.
Vergangenes Frühjahr. Schon lange hat sie Maljutka nicht gesehen, es mögen zwei Monate vergangen sein, seit sich diese mit dem Ausspruch, wohl doch kein besserer Kerl als Matthes zu sein, von ihr verabschiedet hatte. In beinahe täglichen Mails hat Helene versucht, ihr zu erklären, wie es um sie bestellt war. Dass sie verwirrt, durcheinander wäre; dass es im Bauch zöge, wenn sie an Maljutka dächte, dass aber ihr Bauch, jawohl!, ihr gehörte und sie gerade wegen des Ziehens viel öfter, auch stärker, intensiver an Matthes denken müsste; dass sie mit Matthes auf tausenderlei Art verfilzt und verstrickt sei, dass sie nicht einfach einen Faden rausreißen und daran ziehen lassen könnte – sie hätte Angst vor Nacktheit und Vereinzelung; sie hätte ihr Leben mit Matthes’ Leben in einen Topf geschmissen und keine Gelegenheit gefunden – auch nicht gesucht, gab sie zu –, über auswärtige Verliebtheiten zu
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