Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
reden, seit er von ihrer Freundin Heidrun zurückgekommen wäre, allerdings wäre das jetzt sechzehn Jahre her, eigentlich genügend Zeit, Beziehungen wie alt gewordene Jahre vorbeigehen und neue anfangen zu lassen; so hätten sie aber nicht gewettet, als sie sich zusammengetan hatten; sie spürte beinahe täglich, wie wichtig sie für Matthes wäre, während das im umgekehrten Fall nun leider nicht gälte, schlecht für ihn – und für sie, denn sie brächte es so nicht übers Herz, sich zu teilen; manchmal wünschte sie sich, Matthes hätte eine andere Frau, keine heimliche Liebe, sondern offen, leibhaftig, die ihm gäbe, was er bei ihr vermisste, aber daran wäre nicht zu denken, leider; und: manchmal sehnte sie sich nach Matthes, jawohl, das gäbe sie hier gern zu und zu Protokoll (das waren ihre trotzigen Tage); sie wüsste auch nicht, warum, aber so wäre es: Sex mit ihm wäre Gewohnheit, und hätte er einmal begonnen, wäre er in Ordnung, nein: einnehmend, fesselnd! (das waren ihre sehr trotzigen Tage) – nur, dass sie von sich aus im Allgemeinen keine Lust verspürte, ihn beginnen zu lassen … Ihre Mails an Maljutka Malysch nahmen sich im Vorpreschen schon wieder zurück, das hatte sie nicht bemerken wollen damals, aber im Erinnern wird es ihr klar, wie dicke Tinte , sagt sie leise, denn eigentlich ist hier nichts klar: weder ihr Gehabe Matthes noch Maljutka gegenüber. Als hätte sie den Schwebezustand für sich befestigen wollen: in der Gondel gerade so weit oben, dass beide sie sehen und sich nach ihr aufbrauchen mussten – vielleicht hatte sie letztlich gehofft, auf diese Weise beide zunichtezumachen, ohne sich viel vorwerfen zu müssen?
Das trifft. Das sitzt.
Maljutka hatte ihr eines Tages im Mai die Spange geschickt, mit einem Foto: Sie hatte sich die Haare abschneiden, sich mit Dreitagebart und in Hemd und Sakko fotografieren lassen. »Ideal, was?« stand, mit Bleistift geschrieben, auf der Rückseite.
Es ist ein Rascheln und Tütern um sie her: Matthes hat heute Lottchen und Lissy mitgebracht, es ist Samstag, auch in Heidemühlen. Sie hat das Gefühl für die Wochentage gänzlich verloren, ist jeden Morgen überrascht, wenn sie einen davon auf der Zeitung liest. (Manchmal kauft sie eine. Meist aber weiß sie, dass zum Lesen nicht genug Zeit bleiben wird angesichts der Vielzahl der Therapietermine.)
Früher Vormittag, eine ungewöhnliche Besuchszeit. Hat Matthes noch jemanden mitgebracht? In der Tat, hinter der Tür steht – Fips, ihr Nachbar aus der Zeit, als sie noch im Feldberger Ring gewohnt hatten, der ersten gemeinsamen Wohnung. Viele Wohnungen lagen zwischen jener und dem Haus in der Arberstraße … Wo hat er denn den aufgetrieben? Matthes meint, Fips beim Einkaufen getroffen zu haben, er habe in ihrer Nähe gebaut, in der Zwieseler Straße, ganz hinten, du weißt doch: wo die Bahnschienen sind, genau da, wo wir auch überlegt hatten zu bauen, ehe wir unser Grundstück fanden! Aha. Dann ist also Fips, der alte Nachbar, auch Fips, der neue Nachbar. Matthes meint, er sei mitgekommen, um sie abzuholen. Wenn sie will und kann natürlich, das sei eine ganz spontane Idee von Fips gewesen, nachdem er vernommen hatte, was sich in der Familie Wesendahl gerade abspielte.
Möchte Helene? Eigentlich möchte sie nicht. Eigentlich bliebe sie lieber hier. Sie hat Angst, nach Hause zu fahren. Angst vor Matthes’ Gier nach ihr. Angst davor, in die Lage zu kommen, im Kleiderschrank nach der Diskette mit den Maljutka-Mails zu fahnden. Angst, ihr Arbeitszimmer in der oberen Etage zu wissen und nicht hinaufgehen zu können. Angst, von Matthes’ Fürsorge zum Anziehen der blütenreinen Gewogenheitsweste genötigt zu werden, die ihr doch sowieso nicht passt, das Zwangsjäckchen. Angst, einem normal anmutenden Alltag ausgesetzt zu sein. Angst, in Heileheile butts Schwimmblase sitzen zu müssen und nicht genug Luft zu bekommen …
Jetzt hat sie aber auch so lange an Angst gedacht, dass Matthes enttäuscht dreinschaut, na ja, du musst ja nicht . Nein, sie muss ja nicht. Aber andererseits wäre es gar nicht schlecht, Billy und Mareile um sich zu haben; mit Bengt zu telefonieren, wenn Billy ihr hilft; den Kindern, Lacherfolg sicher, das Schälen einer Kartoffel zu zeigen, wie sie es in der Ergotherapie schon versucht hat: aufgespießt auf ein spezielles Brett, hatte die linke Hand herhalten müssen – sie hatte ein solches Brett, in das auch Schaber und Reibe integriert waren, bereits gekauft; vielleicht ließe
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