Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du und ich und all die Jahre (German Edition)

Du und ich und all die Jahre (German Edition)

Titel: Du und ich und all die Jahre (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Silver
Vom Netzwerk:
besser als alles, was bei uns in den Regalen stand. Von den meisten hatte ich noch nie etwas gehört, wie zum Beispiel Einfach unwiderstehlich von Bret Easton Ellis, das schockierend explizite Sexszenen enthielt. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das Buch mochte. Aber wahrscheinlich sollte man genau solche Sachen lesen, weil sie einen zum Nachdenken brachten.
    Das Beste an Charles war jedoch, dass er Mom glücklich machte. Erst als ich bemerkte, wie fröhlich sie mit ihm zusammen war, begriff ich, wie unglücklich sie vorher gewesen sein musste. Wahrscheinlich hatte ich es nicht mitbekommen, weil es schleichend und über viele Jahre schlimmer geworden war, aber unser Alltag mit Dad hatte uns beide immer ängstlicher und zurückgenommener leben lassen. Jetzt, wo Dad weg war, wurden wir beide lauter, unordentlicher, chaotischer, mehr wir selbst.
    Trotzdem ärgerte es mich, dass Charles Silvester zum Essen kam. Ich hatte mir gewünscht, den Abend allein mit Mom zu verbringen. Das wäre etwas ganz anderes gewesen. Wir hätten vielleicht ein bisschen miteinander reden können, über Dad. Vielleicht konnte Mom mir erklären, warum er sich immer so enttäuscht anhörte, wenn ich ihn anrief. Er nahm dann jedes Mal den Hörer ab und sagte: «Hallo?», und ich sagte: «Hallo, Dad, ich bin’s, Nicole», und dann sagte er: «Oh.» Er fragte nie, wie es in der Schule lief, er stellte mir gar keine Fragen. «Wie geht es deiner Mutter? Kommt sie klar?» Das war alles, was er wissen wollte.
    Charles erschien um kurz vor sieben und schwenkte ein Exemplar von White Heat , dem Kochbuch von Marco Pierre White.
    «Ein großer Unterschied zu den Rezepten von Delia Smith, findest du nicht?», fragte er gut gelaunt. «Willst du mir beim Kochen helfen?» Leise fügte er hinzu: «Deine Mutter frage ich gar nicht erst.»
    «Keine Lust», antwortete ich missmutig. Verdammt noch mal! War es nicht schon schlimm genug, dass ich Silvester mit meiner Mutter und ihrem Freund zu Hause verbringen musste? Sollte ich jetzt auch noch in der Küche stehen?
    «Ach komm schon, Nic», sagte Charles. «Es gibt Muscheln und Langusten mit Gurke und Ingwer, dann Lammfilet mit Gemüsefettuccine und Estragonjus.»
    «Na gut», sagte ich und versuchte, nicht die Augen zu verdrehen (Mom konnte das nicht leiden). Ich wollte nicht zugeben, dass ich kein Wort von dem verstanden hatte, was er gerade gesagt hatte.
    Zu meiner Überraschung stellte ich später fest, dass es tatsächlich Spaß machte, mit Charles zu kochen. Inzwischen hatte ich Schalotten gewürfelt und ein daumengroßes Stück Ingwer in dünne Scheiben geschnitten. (Solche Zutaten hatten bis dahin nie den Weg in unsere Küche gefunden.) Dabei hatte Charles mir ein halbes Glas Sekt eingeschenkt, und wir unterhielten uns über Der Report der Magd . Den Roman mussten wir im nächsten Schuljahr lesen. Das Abendessen wurde köstlich, Mom war gut gelaunt, und wir sahen später noch zwei Filme mit Keanu Reeves an: My Private Idaho und Gefährliche Brandung , mir zuliebe. Insgesamt also alles gar nicht so übel.
    Doch dann, um kurz vor elf, klingelte es an der Tür. Mir drehte sich der Magen um. Das konnte nur einer sein. Dad. Und um diese Uhrzeit hatte er schon Stunden im Pub verbracht. Charles hielt den Film an und stand auf, um die Tür zu öffnen, doch Mom hielt ihn zurück. Ich wollte ihr hinterhergehen, aber Charles legte mir die Hand auf den Arm und sagte: «Warte einen Augenblick, okay?» Wir standen beide im Wohnzimmer, direkt hinter der Tür, bereit, Mom sofort zu retten.
    Sie öffnete die Tür, und ich hörte sie aufschreien. «Oh Gott!» Mir wurde eiskalt. Etwas Furchtbares musste passiert sein. Charles rannte vor mir in den Flur, ich griff nach dem Telefon, um einen Krankenwagen zu rufen. Dann hörte ich, wie Mom noch einmal «Oh Gott!» sagte und «Was ist denn mit dir passiert?».
    Mit dem Telefonhörer in der Hand lief ich in den Flur. Mom und Charles standen vor der Tür und versperrten mir die Sicht.
    «Was ist los?», rief ich und versuchte verzweifelt, nicht panisch zu klingen. «Geht es Dad gut?»
    «Das ist nicht Dad, Liebling», sagte Mom. Und ich sah wie vom Donner gerührt zu, wie Mom und Charles Julian ins Haus führten. Er war dreckig und zerzaust, seine Schultern zuckten, sein rechtes Auge war zugeschwollen und sein Gesicht blutüberströmt. Ich brach in Tränen aus.
    Mom ging mit ihm nach oben, um seine Wunden zu säubern. Ich hampelte vor der Badezimmertür herum und rief: «Was

Weitere Kostenlose Bücher