Du und ich und all die Jahre (German Edition)
meine Schulter, dieses Mal mit hoch erhobenem Kopf. Ich wollte nicht mehr im Erdboden versinken, sondern wünschte mir inständig, dass mich eben die ganze Schule gesehen hatte. Bitte, bitte, hoffentlich ist allen aufgefallen, dass ich, Nicole Blake aus der achten Klasse, gerade mit Julian Symonds aus der zehnten geredet habe, dem bestaussehenden Jungen der ganzen Schule!
Wie versprochen besuchte er mich am nächsten Abend. Am Tag danach kam er in der Mittagspause zu mir an den Tisch und setzte sich sogar neben mich, sodass die gesamte zehnte Klasse es mitbekam. Am Freitag besuchte er mich wieder zu Hause. Ich war oben in meinem Zimmer und schmollte, weil Mom mit Charles in der Küche gesessen und wie ein Teenager gekichert hatte, als ich nach Hause kam. Wie würdelos. Nachdem Charles gegangen war, hatten Mom und ich einen Streit. Sie fand, ich sei unhöflich zu ihm gewesen.
«Nur weil ich ihn nicht so anhimmele wie du, bin ich noch lange nicht unhöflich», sagte ich.
«Was soll denn das, Nic?», fragte sie. «Er ist ein guter Freund.»
«Nennt man das heute so?»
«Nicole!»
«Na ja, vielleicht hatte Dad ja recht …»
«Geh in dein Zimmer, Nicole», sagte sie und schnitt mir damit das Wort ab. «Sofort.»
Ich stapfte nach oben und legte mich auf mein Bett. Warum konnte ich es nicht lassen, so gemein zu ihr zu sein? Sie hatte schließlich nichts falsch gemacht.
So lag ich noch immer da, als es unten klingelte. Kurze Zeit später klopfte es leise an meiner Zimmertür.
«Was ist?», schnauzte ich.
Mom öffnete die Tür. «Unten ist jemand, der dich besuchen möchte», sagte sie.
«Wer?»
«Julian.»
Ich sprang panisch auf, riss mir die Schuluniform vom Leib und wirbelte im Zimmer herum auf der Suche nach den richtigen Klamotten. Mom stand im Türrahmen und sah mir zu.
«Eigentlich sollte ich ihn nach Hause schicken», sagte sie.
«Nein!», rief ich erschrocken. «Bitte nicht.»
«Du warst nicht gerade nett zu mir, Nic. Ich weiß wirklich nicht, ob ich dir erlauben kann, dich heute Abend mit Freunden zu treffen.»
«Bitte, Mom», bettelte ich. «Es tut mir leid. Es tut mir sooo leid.»
Sie sah mich mit undurchdringlicher Miene an. Dann lächelte sie. «Zieh doch das rote Oberteil an, das wir im Sommer in der Oxford Street gekauft haben. Darin siehst du toll aus.» Ich umarmte sie überschwänglich. «Ist ja schon gut. Du ziehst dich um, und ich sage Julian, dass du gleich runterkommst. Und, Nic?»
«Ja?»
«Ich würde niemals unhöflich zu deinen Freunden sein. Bitte zeig den gleichen Respekt meinen Freunden gegenüber.»
Ich sprang in meine Jeans, schlüpfte in das rote Oberteil und zog meinen Lidstrich nach. Dann musterte ich mich finster im Spiegel. Schrecklich! Aber daran war jetzt nichts zu ändern. Ich holte tief Luft, öffnete meine Tür und machte mich auf den Weg nach unten.
Julian wartete im Flur. Er sah perfekt aus in seiner schwarzen Jeans, der Motorradjacke und den Doc Martens.
«Hey, du», sagte er und lächelte, «hoffentlich macht es dir nichts aus, dass ich einfach so hereinplatze.»
«Natürlich nicht», sagte ich. Als ich am Fuß der Treppe angekommen war, nahm er meine Hand. Ich fiel fast tot um. Er zog mich an sich, dabei schaute er schnell über meine Schulter, um sich zu vergewissern, dass wir alleine waren (waren wir – meine wunderbare Mutter war in der Küche verschwunden), dann beugte er sich zu mir hinunter und küsste mich auf den Mund.
«Sogar noch besser», sagte er leise.
«Besser als was?»
«Als ich es mir vorgestellt hatte. Und ich habe es mir seit Silvester ausgemalt.»
So fing es an, und es war auch besser, als ich es mir erträumt hatte. Alles war perfekt. Es war einfach toll, Zeit mit ihm zu verbringen. Hinter seiner coolen Fassade verbarg sich ein toller Sinn für Humor. In den fünf Wochen, in denen wir zusammen waren, konnten wir scheinbar überhaupt nicht mehr aufhören zu reden – über alles: meine Familie, seine Familie, unsere Freunde, Filme, Musik, Kunst … Und ich war so stolz darauf, mit ihm den Schulflur entlangzugehen und Händchen zu halten oder mit seinem Arm auf meiner Schulter. Er war so cool, was das anging – nicht wie die Idioten, die ihre Freundin öffentlich nicht anfassten, ihr aber sofort die Kleider vom Leib rissen, sobald sie allein waren. Julian wurde gerne mit mir zusammen gesehen.
Na schön, zugegeben, es war nicht alles perfekt. Denn auch wenn er in der Öffentlichkeit lieb und zärtlich mit mir umging, war er
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