Du und ich und all die Jahre (German Edition)
einmal halb zehn, und er würde am liebsten ins Bett gehen.
«Ich bin gar nicht müde, Dom», stelle ich vorsorglich fest.
«Das liegt daran, dass du den ganzen Flug über geschlafen hast.»
«Ich weiß, aber ich bin nicht müde. Ich will jetzt noch nicht ins Bett.»
«Wir müssen ja nicht gleich schlafen», sagt er und zieht eine Augenbraue hoch – genauso wie Roger Moore. Normalerweise finde ich das charmant und witzig, aber jetzt nervt es mich. Ich möchte etwas erleben.
«Ich will noch losziehen», sage ich und schiebe trotzig die Unterlippe vor.
«Nic, ich bin kaputt.»
Ich seufze. «Okay, dann geh du hoch ins Bett. Ich mache einen kleinen Spaziergang um den Block und trinke vielleicht noch ein Glas Wein unten an der Bar. Okay?»
«Schön. Aber warum trinkst du nicht einfach nur ein Glas Wein? Lauf nicht allein draußen rum.»
«Dom, wir sind hier im Zentrum von Manhattan, und es ist noch nicht mal spät. Es sind haufenweise Leute unterwegs. Ich möchte einfach nur ein bisschen herumwandern. Ich komme schon alleine klar.»
Am Aufzug gibt er mir einen Abschiedskuss.
«Willst du für deinen Spaziergang nicht lieber etwas bequemere Schuhe anziehen?», fragt er.
«Nö, das geht schon», antworte ich, würde ihn aber am liebsten anschreien: «Nein! Ich will Scheiße noch mal keine bequemeren Schuhe anziehen! So läuft man in Manhattan nun mal rum! Hast du noch nie Sex and the City gesehen?»
«Willst du nicht vielleicht einen Stadtplan mitnehmen?», fragt er.
«Ich habe mein Handy.»
Ich reiße mich von ihm los – ich will endlich da raus. Manchmal denke ich, Dom hat vergessen, dass ich mich schon größeren Herausforderungen stellen musste, als in High Heels den Broadway herunterzulaufen. Ich war im Kongo und in Nordkorea, ich war während der letzten israelischen Invasion im Libanon, ich saß in einem Wagen in Basra, auf den geschossen wurde. Dom weiß nicht mehr, dass ich mal Mut hatte. Vielleicht wird es Zeit, dass wir uns beide wieder daran erinnern.
Ich spaziere auf dem Broadway in südlicher Richtung, über den Union Square und vorbei an der Grace Church. Dann überquere ich die 4th Street Richtung East Village. Meine Füße bringen mich um (ja, okay, er hatte Recht: andere Schuhe wären besser gewesen), also mache ich in einer kleinen Bar Station, die keinen Namen zu haben scheint. Ich setze mich an den Tresen und bestelle einen Martini. Mein Telefon summt in der Handtasche. Eine SMS von Dom.
Amüsier dich und geh nicht so weit weg, bis bald X
Ich schaue mir auf meinem Handy die Karte von New York an. Ich bin nur neun oder zehn Blocks von Alex’ Apartment entfernt. Ich wusste, dass sie hier in der Gegend wohnt, aber nicht, wie nah ihre Wohnung tatsächlich ist. Ich nippe an meinem Drink und wäge die Möglichkeiten ab. Es ist noch nicht mal halb elf. Ich könnte zum Hotel zurückgehen, mich an die Bar setzen und Leute beobachten. Ich könnte ins Bett gehen. Oder ich könnte in ein Taxi springen und meine ehemals allerbeste Freundin besuchen.
Draußen winke ich mir ein Taxi heran und sage dem Fahrer, er soll mich zur Mulberry Ecke Grand Street fahren.
«Ich weiß, das ist nicht besonders weit», entschuldige ich mich. «Aber mir tun die Füße weh, und ich kenne mich in der Gegend hier nicht besonders gut aus.
Der Taxifahrer reagiert total charmant.
«Das ist schon okay. Ich kenn doch die Ladys mit ihren High Heels. Meine Frau ist genauso.»
«Vielen Dank. Wenn ich das mit einem Taxifahrer in London gemacht hätte, würde er mir den Kopf abreißen.»
Er lacht. «Lady, New York ist nicht London.»
Das Gebäude, in dem Alex wohnt, ist modern und konturlos. Kein Pförtner. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich die Nummer ihrer Wohnung gar nicht weiß, und bin plötzlich unglaublich erleichtert. Jetzt kann ich einfach abhauen. Ich hatte den Kick, mir unser Wiedersehen vorzustellen, aber ich muss das Ganze nicht wirklich durchziehen. Dann fällt mir auf, dass neben einigen Klingeln Namen stehen. Und neben einer von ihnen lese ich in fast bis zur Unleserlichkeit verblasster Schrift: A. Rose.
Meine Hände zittern, als ich die Klingel drücken will. Doch dann kneife ich und gehe die Straße auf der Suche nach einem neuen Taxi hinunter. Nach ein paar Metern drehe ich mich wieder um und gehe zurück zum Haus. Das ist ja lächerlich. Sie ist bestimmt nicht mal da. Ich drücke die Klingel und halte die Luft an.
Als die Sprechanlage knackt, beginne ich wieder zu atmen.
«Hau ab, Aaron»,
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