Du wirst sein nächstes Opfer sein: Thriller (Knaur TB) (German Edition)
grundmenschlichen Bedürfnis, sich gegen die unbekannte Bedrohung zusammenzuschließen.
Eden hatte die Million nicht gewonnen. Aber sie hatte für einen jener einzigartigen Momente gesorgt, für den TV-Produzenten beten. Eine improvisierte Szene reinster Emotionalität, so echt und ungeschönt wie der Anblick einer Mutter, die in ein brennendes Haus läuft. Dadurch wurde sie wenn nicht ein Star, so doch ein Komet, der für ein, zwei Spielzeiten über den Medienhimmel zog.
Für Realityshows suchte man bevorzugt Archetypen, je eindeutiger, desto besser. Und Eden hatte man als das reine, gutherzige Südstaatenmädel mit der leisen Stimme ausgewählt, aber immerhin mit einem Schlag Oststaaten, um nicht White Trash zu sein, und etwas Nordstaaten, um nicht als Rassistin zu erscheinen. Ein bisschen sexgeil und ein bisschen jungfräulich zugleich. Wie Britney vor ihrem Zusammenbruch, nur mit einem Schuss Daisy Duke. Wäre sie eine Figur aus einem Slasher-Film gewesen, hätte sie gute Chancen gehabt, bis fast zum Abspann durchzuhalten.
Allerdings nicht ganz. Denn sie war nicht klug genug, um die mutige Hauptfigur zu spielen, die bis zum Ende überlebte. Sie entsprach eher der besten Freundin der Hauptfigur, die das letzte, herzzerreißende Opfer abgab. Sympathisch, aber nicht abgebrüht genug, um heil aus der Sache herauszukommen.
Eines der Grundgesetze von Reality-Programmen war: Ihr sollt euch nicht vertragen. Deshalb wählte man Persönlichkeiten mit dem Potenzial für maximalen Konflikt. Nicht immer konnten die Produzenten eindeutig voraussagen, wo sich erbitterte Feindschaften und wo sich Freundschaften ergeben würden – Menschen hatten die halsstarrige Angewohnheit, sich zuweilen entgegen den Erwartungen zu verhalten –, aber gewisse Kombinationen bargen die Garantie in sich, dass Animositäten und Argwohn entstanden. Darum war auch niemand überrascht, dass Eden und eine Kandidatin namens Estrellita Juarez sich von Anfang an nicht ausstehen konnten. Estrellita war Wissenschaftlerin, eine nüchterne Genetikerin aus einer reichen Familie. Eden dagegen hatte die Schule geschmissen, war arm und dazu noch eine überzeugte Christin. Zwar wehrte sich Eden vehement dagegen, als Frömmlerin bezeichnet zu werden, aber offenkundig waren ihr gewisse soziale Vorurteile gegenüber Latinos in Fleisch und Blut übergegangen. Diese wurden umso deutlicher aufgrund des Umstands, dass Estrellita die höhere Bildung und das größere Vermögen besaß. Schon am ersten Tag gerieten sie in Streit, und am dritten Tag kam es beinahe zu einer Schlägerei. Im Verlauf der darauffolgenden Woche entstand zwischen den beiden ein widerwilliger, gegenseitiger Respekt, der den äußeren Umständen und den Fähigkeiten der jeweils anderen geschuldet war.
Um Hinweise zu erhalten, mussten die Kandidaten bestimmte Aufgaben erfüllen. Die einzige Belohnung, die sie erhoffen konnten, war eine Auszeit, eine Stunde oder mehr im Safe Room, dem einzigen Ort, wo ihnen garantiert war, dass sie nicht angegriffen, erschreckt oder eingeschüchtert wurden. Da die Kandidaten sogar »getötet« werden konnten, indem sie von einer realistisch wirkenden Waffe mit Kunstblut beschmiert wurden, musste man sich gegen Angreifer entweder wehren oder vor ihnen davonlaufen. Wurde man dreimal »getötet«, schied man endgültig aus dem Spiel aus.
Nur vier Kandidaten waren übrig, als Estrellita und Eden zusammengesteckt wurden, um eine Exkursion in den Keller zu unternehmen. Beide waren schon zweimal »getötet« worden.
Estrellita hatte panische Angst vor Eidechsen, und das aus gutem Grund: Sie kam aus Florida, und mit sechs Jahren hatte sie mit angesehen, wie ihr acht Jahre alter Bruder von einem Alligator in einen Kanal gezerrt und getötet worden war. In der Nähe von Gewässern hatte sie sich seither immer unwohl gefühlt, und schon beim Anblick eines Godzilla-Plakats geriet sie ins Hyperventilieren.
Das Monster, das die beiden Frauen angriff, schien geradewegs ihren Alpträumen entsprungen zu sein, eine unförmige, schuppige Missgeburt mit einer Schnauze voller rasiermesserscharfer Zähne. Estrellita kreischte, ließ ihre Taschenlampe fallen und wollte die Flucht ergreifen. Sie hatte noch keinen Schritt gemacht, als das Ungeheuer sie von hinten schnappte.
Doch die Produzenten hatten bei der Gestaltung des Monsters nicht nur Estrellitas Phobie im Auge gehabt. Auch Eden hatte eine ganz bestimmte Angst – und zwar vor Fleischern. Schon der Anblick eines langen,
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