Du wirst sein nächstes Opfer sein: Thriller (Knaur TB) (German Edition)

sprechen hören. »Ich glaube, die meisten Leute stolpern ohne viel Selbsterkenntnis durchs Leben. Wenn ich das getan hätte, würde ich jetzt sabbernd in einem Krankenhausbett vor mich hin vegetieren. Ich war gezwungen, mich meiner selbst überbewusst zu sein, denn zwischen mir und dem Rest der Welt lag immer diese Isolierschicht. Diese Schicht durfte ich keine Sekunde übersehen, und ich musste ihre Auswirkungen kompensieren. Bei meiner Wachsamkeit ging es um mehr als nur den Erhalt meines Körpers. Sie war auch das Mittel, um eine Welt zu verstehen, die so grundsätzlich anders war als meine eigene. Ich habe mich über Schmerz informiert, Jack. Ich habe seine Wirkung, seine Ursachen und seine Folgen studiert. Ich musste wissen, was mir fehlte. Ich hätte alles gegeben, um das zu spüren, was jeder andere Mensch zu hassen schien. Eines Tages jedoch dämmerte es mir. Dass ich als Einziger für diese Aufgabe geeignet bin. Ich kann die Welt nachweislich zum Besseren ändern. Schau, mir ist bewusst, dass ich zu keiner Empathie in der Lage bin, Jack. Aber das ist genau der Punkt: dass es mir bewusst ist. Und ich habe mir extrem ausgefeilte Fähigkeiten angeeignet, um diesen Mangel auszugleichen.«
    Jack verstand, was Remote ihm da sagen wollte. Um unter Menschen zurechtzukommen und nicht aufzufallen, lernten Leute mit asozialen Persönlichkeitsstörungen, wie man echte menschliche Gefühle nachahmte, auch wenn sie selbst nicht in der Lage waren, sie zu empfinden. Auf diese Weise hatte es auch ein Ungeheuer wie Ted Bundy geschafft, praktisch unsichtbar zu bleiben, während er Dutzende junger Frauen belauert und getötet hatte.
    Als könne er Jacks Gedanken lesen, schüttelte Remote den Kopf. »Ich spreche hier nicht von einem Tarnanstrich, um mich zu schützen. Mir geht es um Analyse. Darum, die Dateninhalte von Emotionen auszuschöpfen. Auch wenn ich keine innere Verbindung zu anderen Menschen empfinden kann, heißt das doch nicht, dass ich nicht … nicht nützlich sein kann.«
    In Jacks Bauch breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Schon seit langer Zeit hatte er sich bei der Arbeit keine Emotionen mehr gestattet, doch nun empfand er etwas. Ein Gefühl, das er nicht benennen konnte und in dem sich Grauen, Mitleid und Wiedererkennen mischten.
    Jack hatte sich einer höheren Sache zuliebe in ein Monster verwandelt. Remote hatte dasselbe getan, doch während der Auslöser bei Jack eine Überdosis Schmerzen gewesen war, war es bei Remote der völlige Mangel an solchen.
    »Alles dreht sich um Schmerz, Jack. Einfach alles. Auf allen Ebenen treibt er die Menschen an. Und je mehr ich darüber gelernt habe, desto klarer wurde mir, dass ich wie einer bin, der eine natürliche Immunität gegen die Pest besitzt und durchs mittelalterliche Europa zieht. Dadurch kann ich Dinge in Ordnung bringen, Jack.«
    »Wie das? Indem du die Leute von ihren Qualen erlöst?«
    »Nein. Indem ich die Ursache ihres Schmerzes entferne. Genau so, wie du es machst.«
    »Das … das stimmt nicht.«
    »Doch, es ist dasselbe. Dass du dafür folterst, ist eine nebensächliche Notwendigkeit. Das hast du selbst gesagt. Wir sind so etwas wie Chirurgen. Zugegeben, wir müssen in den Leib der Gesellschaft schneiden, aber dabei entfernen wir, was dem Körper Schmerzen verursacht. Das ist eine hässliche, brutale Arbeit, und manchmal muss die Gesellschaft kurzfristig darunter leiden. Am Ende aber ist es wohltuend. Nicht für uns, aber für alle anderen. Deshalb mache ich das … und ich weiß, dass du es auch aus diesem Grund machst.«
    Sie starrten sich gegenseitig an. Jack war bewusst, wie manipulativ Soziopathen sein konnten. Aber er merkte auch, wenn jemand ihm die Wahrheit sagte.
    Und es war die Wahrheit.
    Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf und ging hinaus.

    Er hatte sich in Remote getäuscht.
    Als Jack die Online-Community aus Serienkillern gejagt hatte, die sich das Rudel nannte, hatte er sich als Erstes Djinn-X vorgenommen, den Hacker, der die Webseite Jagdrevier eingerichtet hatte. Djinn-X hatte eine allgemeine Wahrheit erkannt, die auf alle Menschen, selbst auf Soziopathen und Psychos, zutraf: Sie alle sehnten sich nach Gemeinschaft. Egal, wie zurückgezogen oder geschädigt die Psyche auch war, tief im Menschen war stets etwas, das nicht allein sein wollte. Wissen weiterzugeben, Bestätigung von anderen zu erhalten, sich anderen mitteilen zu können, die dieselben Erfahrungen gemacht hatten wie man selbst: All das war in der DNS des Homo sapiens