Du wirst sein nächstes Opfer sein: Thriller (Knaur TB) (German Edition)
aus einem 40er-Jahre-Noir-Krimi, der seine Beobachtungen notiert. »Geht zur Arbeit, um zehn schickt er einen Mitarbeiter zum Kaffee holen, isst um eins Mittag, und noch einen Kaffee um drei. Um fünf geht er nach Hause. Heute beginnt allerdings das Wochenende – vielleicht ändert er da seine Routine und macht etwas total Krasses. Hoffentlich nicht, ich könnte sonst vor Aufregung ’nen Herzkasper kriegen.«
Der schroffe, gelangweilte Tonfall war nur Gehabe, Teil des Spiels, das er spielte. In Wirklichkeit war Tanner so aufgeregt, dass er es kaum aushielt.
Heute Nacht. Bestimmt würde er es heute Nacht machen müssen.
Alles, was er brauchte, war im Kofferraum. Nun ja, nicht alles: Ein paar Sachen waren in dem Motelzimmer, aber es war alles hergerichtet, er musste es nur noch mitnehmen. Dieser Teil der Mission interessierte Tanner allerdings nicht sonderlich. Dort würde er die Kontrolle nämlich an seinen Boss abgeben, und dann wäre Tanners Teil auch schon fast erledigt.
Sein Handy teilte ihm mit einem Zirpen mit, dass er eine SMS erhalten hatte. Er las sie im Fahren, indem er den Blick von dem kleinen Bildschirm in seiner Hand immer wieder zur Straße und zurück gleiten ließ.
Mission starten. Nehmen Sie die Zielperson fest und warten Sie an Ort 2 auf weitere Instruktionen.
Eine Welle der Begeisterung durchwogte ihn. Das war etwas Neues. Remote wollte nie, dass er dablieb, wenn das Opfer erst einmal im Motelzimmer war. Was hatte das zu bedeuten?
Tanner wusste, was Remote machte – die Ausrüstung war viel zu offensichtlich, ganz zu schweigen von den Medienberichten, die hinterher erschienen –, und er hätte nur zu gern mehr dazu beigetragen, als immer nur das Rohmaterial zu beschaffen. Sicher bekam Tanner auch vom Beschatten und der Festnahme schon einen Kick. Aber der wirklich leckere Teil der Arbeit blieb Remote vorbehalten. Sein Boss hatte die unmittelbare, über Leben und Tod entscheidende Macht über die Opfer, und vom bloßen Gedanken daran bekam Tanner einen Ständer. Man konnte Menschen zu fast allem zwingen … Mehr als einmal hatte er sich ausgemalt, was er machen würde, wenn Remote ihn einmal ans Steuer ließe. Wäre es jetzt endlich so weit?
Es kostete ihn enorme Willensanstrengung, nicht einfach Gas zu geben und Samuel Lages Wagen von der Straße zu drängen. Doch nein, er würde sich an den Plan halten.
Lage fuhr zu seiner Wohnung in einem Haus mit versetzten Stockwerken, das am Stadtrand von Yubal City lag. Früher war die Gegend voller Obstgärten gewesen, und noch immer zierten Lages Grundstück hinter dem Haus zwei Zitronenbäume. Er lebte allein mit zwei Katzen.
Tanner wusste nicht, weshalb Remote es auf Lage abgesehen hatte, und es kümmerte ihn auch nicht. Ihm war wichtiger, dass Lage oft Pizzen zum Abendessen bestellte – was seinen Bauchumfang erklärte – und sich deshalb nichts dabei denken würde, wenn es eine Stunde nach seiner Heimkehr an seiner Tür klopfte.
Während Tanner wartete, dachte er über die Dinge nach, zu denen er Samuel Lage zwingen konnte. Was für ein Jammer, dass die Zielperson nicht jung und weiblich war, doch Tanners Vorstellungskraft vermochte diesen Umstand bestens zu kompensieren. Nach einer Dreiviertelstunde hielt er das Warten nicht mehr aus. Er holte, was er brauchte, aus dem Kofferraum und ging zu Lages Haustür.
Wie er erwartet hatte, öffnete ihm Lage in einem Bademantel und hielt das Portemonnaie in der Hand. Tanner trug seine übliche Verkleidung: eine Perücke mit Baseball-Käppi, eine übergroße Sonnenbrille und einen falschen Bart. Aus der Nähe war alles nicht besonders überzeugend. Doch er brauchte auch nichts weiter, als die Eindrücke seiner Opfer für den kurzen Augenblick zu verfälschen, in dem sie ihn tatsächlich sahen.
Fast beiläufig streckte er die Hand mit dem Taser aus und drückte ihn gegen Lages nackten Unterarm. Durch den Körper des Mannes ging ein Zucken, und dann sank er zu Boden. Tanner stellte sicher, dass Lage nach hinten kippte und nicht die Tür versperrte. Er trat ein, bückte sich zu ihm hinunter und versetzte ihm einen zweiten Schock, diesmal in den Hals. Lage krampfte sich zusammen und verdrehte die Augen wie ein Epileptiker. Darauf richtete Tanner sich wieder auf und schloss leise die Tür.
In der anderen Hand hielt er die Spritze. Wieder beugte er sich hinunter und stach sie in Lages Hals, so dass das Medikament direkt in die Drosselvene gelangte. Dann lehnte er sich gegen die Tür und
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