Dubliner (German Edition)
das erste von vielen Treffen; sie trafen sich stets abends und suchten sich für ihre gemeinsamen Spaziergänge die ruhigsten Viertel aus. Mr Duffy lehnte Heimlichkeiten jedoch ab, und als er merkte, dass sie gezwungen waren, sich im Geheimen zu treffen, nötigte er sie, ihn in ihr Haus einzuladen. Kapitän Sinico befürwortete seine Besuche, da er annahm, es gehe dabei um die Hand seiner Tochter. Er hatte seine Frau so gründlich aus der Galerie seiner Freuden gestrichen, dass ihm derVerdacht, ein anderer könnte ihr Aufmerksamkeit schenken, gar nicht kam. Da der Ehemann häufig unterwegs war und die Tochter außer Haus Musikstunden gab, fand Mr Duffy viele Gelegenheiten, sich der Gesellschaft der Dame des Hauses zu erfreuen. Weder er noch sie hatten je zuvor ein Abenteuer dieser Art gehabt, und keiner von ihnen war sich irgendeiner Unschicklichkeit bewusst. Nach und nach verstrickten sich seine Gedanken mit den ihren. Er lieh ihr Bücher, versorgte sie mit Anregungen, teilte sein geistiges Leben mit ihr. Sie hörte sich alles an.
Manchmal, im Tausch gegen seine Theorien, teilte sie ihm die eine oder andere Tatsache aus ihrem Leben mit. Mit beinahe mütterlicher Fürsorge bewegte sie ihn dazu, sein Inneres ganz zu öffnen; sie übernahm die Rolle seines Beichtvaters. Er erzählte ihr, dass er eine Zeit lang an Versammlungen einer irischen Sozialistenpartei * mitgewirkt habe, wo er sich unter den zwei Dutzend nüchternen Arbeitern in einer von einer Petroleumlampe schwach erleuchteten Dachkammer wie ein Außenseiter vorgekommen sei. Als die Partei sich in drei Fraktionen spaltete, jede mit ihrem eigenen Anführer und ihrer eigenen Dachkammer, sei er nicht mehr hingegangen. Die Diskussionen der Arbeiter, sagte er, seien zu zaghaft; ihr Interesse an Lohnfragen unverhältnismäßig groß. Seiner Meinung nach waren sie hartköpfige Tatsachenmenschen, die nichts von jener Gründlichkeit des Denkens hielten, wie sie nur in Mußestunden entstehen kann, die sie nicht hatten. Eine soziale Revolution, erklärte er ihr, werde es in Dublin wohl erst in ein paar Jahrhunderten geben.
Sie fragte ihn, warum er seine Gedanken denn nicht zu Papier bringe. Wozu?, fragte er mit vorsichtiger Häme. Etwa um mit Phrasendreschern zu konkurrieren, die keine sechzig Sekunden lang folgerichtig denken können? Um sich der Krittelei eines stumpfsinnigen Bürgertums auszusetzen,das die Moral der Polizei und die Künste den Impresarios überlässt?
Er kam häufig in ihr kleines Haus am Rande von Dublin, und oft verbrachten sie die Abende allein. Nach und nach, als ihre Gedanken sich miteinander verstrickten, sprachen sie auch von weniger Entlegenem. Ihre Gesellschaft wirkte auf ihn wie warmes Erdreich, das eine exotische Pflanze umgibt. Oftmals ließ sie es zu, dass die Dunkelheit sich über sie breitete, und unterließ es, die Lampe anzuzünden. Der dunkle, verschwiegene Raum, ihre Abgeschlossenheit, die Musik, die noch in ihren Ohren nachklang, verbanden sie. Diese Verbundenheit hatte für ihn etwas Erhebendes, glättete die scharfen Kanten seines Wesens, machte sein Denken einfühlsamer. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er seiner eigenen Stimme lauschte. Er glaubte, dass er in den Augen seiner Gefährtin zu einer Engelsgestalt erhoben würde, und während er ihre Leidenschaftlichkeit immer enger an sich band, hörte er, wie die seltsam unpersönliche Stimme, die er als seine eigene wiedererkannte, mehrmals von der unheilbaren Einsamkeit der Seele sprach. Wir können uns nicht hingeben, sagte diese Stimme; wir gehören nur jeder sich selbst. Das Ende dieser Gespräche kam eines Abends, als Mrs Sinico, die schon zuvor Anzeichen ungewöhnlicher Erregung gezeigt hatte, leidenschaftlich seine Hand ergriff und an ihre Wange presste.
Mr Duffy war völlig überrascht. Ihre Auslegung seiner Worte ernüchterte ihn. Eine Woche lang besuchte er sie nicht mehr. Dann schrieb er ihr und bat sie um ein Treffen. Da er nicht wollte, dass ihr letztes Gespräch durch ihr entweihtes Beichtzimmer störend beeinflusst werde, trafen sie sich in einer kleinen Konditorei in der Nähe des Parkgate. Es herrschte kaltes Herbstwetter, doch trotz der Kälte gingen sie fast drei Stunden lang die Parkwege langsam auf und ab. Sie beschlossen, ihren Verkehr zu beenden: JedeBindung, sagte er, sei eine Bindung an das Leid. Als sie den Park verließen, gingen sie wortlos zur Straßenbahnhaltestelle; dort wurde sie jedoch von so heftigem Zittern ergriffen, dass er
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