Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
Vom Netzwerk:
befürchtete, sie könnte erneut die Beherrschung verlieren, und so verabschiedete er sich hastig und ging. Ein paar Tage darauf erhielt er ein Päckchen mit seinen Büchern und Noten.
    Vier Jahre vergingen. Mr Duffy kehrte zu seinem gleichförmigen Leben zurück. Sein Zimmer legte noch immer Zeugnis ab von seiner ordnungsliebenden Denkart. Einige neue Musikstücke beschwerten den Notenständer im unteren Stockwerk, und auf seinem Regal standen zwei Bände Nietzsche: Also sprach Zarathustra und Die fröhliche Wissenschaft . Er schrieb nur selten etwas auf die Blätter, die in seinem Pult lagen. Ein Satz, den er einige Monate nach seiner letzten Begegnung mit Mrs Sinico notiert hatte, lautete: Liebe zwischen Mann und Mann ist unmöglich, da es nicht zum Geschlechtsverkehr kommen darf, und Freundschaft zwischen Mann und Frau ist unmöglich, weil es zum Geschlechtsverkehr kommen muss. Konzerten blieb er fern, um ihr nicht zu begegnen. Sein Vater starb; der Juniorpartner der Bank setzte sich zur Ruhe. Und noch immer fuhr er jeden Morgen mit der Straßenbahn in die Stadt und ging abends zu Fuß nach Hause, nachdem er in der George’s Street bescheiden gegessen und zum Nachtisch die Abendzeitung gelesen hatte.
    Eines Abends, als er sich gerade einen Bissen Corned-Beef und Kohl in den Mund stecken wollte, hielt er plötzlich inne. Seine Augen waren auf einen Artikel in der Zeitung geheftet, die er gegen die Wasserkaraffe gelehnt hatte. Er legte den Bissen zurück auf den Teller und las den Artikel aufmerksam. Dann trank er ein Glas Wasser, schob seinen Teller beiseite, legte die zusammengefaltete Zeitung zwischen seine Ellbogen auf den Tisch und las den Artikelwieder und wieder. Der Kohl auf dem Teller bildete allmählich eine kalte weißliche Fettschicht. Die Serviererin kam und erkundigte sich, ob mit dem Essen etwas nicht stimme. Er sagte, es sei sehr gut, und aß mit Mühe noch ein paar Happen. Dann zahlte er und ging hinaus.
    Er ging schnellen Schrittes durch die novemberliche Dämmerung; sein Haselnussstock stieß im Takt aufs Pflaster, und aus einer Tasche seines engen Matrosenmantels sah ein gelbliches Stück der Mail hervor. Auf der einsamen Straße, die vom Parkgate nach Chapelizod führte, wurde er langsamer. Sein Stock stieß mit weniger Nachdruck aufs Pflaster, und sein unregelmäßiger Atem, der beinahe seufzend klang, bildete in der winterlichen Luft kleine Wolken. Zu Hause angekommen, ging er sogleich hinauf in sein Zimmer, nahm die Zeitung aus der Tasche und las im Zwielicht am Fenster noch einmal den Artikel. Er las ihn nicht laut, bewegte aber seine Lippen wie ein Priester, wenn er seine Gebete secreto * liest. Der Artikel lautete:
    TOD EINER DAME IN SYDNEY PARADE
    Ein trauriger Fall
    Im Städtischen Krankenhaus von Dublin fand heute unter Vorsitz des Stellvertretenden Leichenbeschauers (in Abwesenheit von Mr Leverett) die amtliche Untersuchung der Ursache des Todes von Mrs Emily Sinico statt, die gestern Abend auf dem Bahnhof Sydney Parade im Alter von dreiundvierzig Jahren ums Leben kam. Die Beweisaufnahme ergab, dass die Verstorbene beim Versuch, die Gleise zu überqueren, von der Lokomotive des Zehn-Uhr-Zuges aus Kingstown erfasst wurde und dabei Verletzungen am Kopf und an der rechten Körperseite erlitt, die ihren Tod zur Folge hatten.
    James Lennon, der Lokomotivführer, sagte aus, er seibereits seit fünfzehn Jahren bei der Eisenbahngesellschaft beschäftigt. Beim Pfiff des Aufsichtsbeamten habe er den Zug in Bewegung, ihn aber Sekunden später wieder zum Stehen gebracht, als er Schreie hörte. Der Zug sei langsam gefahren.
    P. Dunne, ein Gepäckträger, gab an, beobachtet zu haben, wie eine Frau, gerade als der Zug sich in Bewegung setzte, die Gleise zu überqueren versuchte. Er sei schreiend auf sie zugelaufen, aber noch ehe er sie erreicht habe, sei sie von einem der Puffer der Lokomotive erfasst worden und zu Boden gestürzt.
    E IN G ESCHWORENER Sie sahen also die Dame fallen?
    Z EUGE Jawohl.
    Polizeisergeant Croly sagte aus, bei seinem Eintreffen habe er die Verstorbene offensichtlich tot auf dem Bahnsteig liegend vorgefunden. Er habe den Leichnam bis zum Eintreffen der Ambulanz in den Wartesaal bringen lassen.
    Wachtmeister Nr. 57 E bestätigte die Aussage.
    Dr. Halpin, Assistenzarzt in der Chirurgischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses von Dublin, erklärte, die Verstorbene habe Frakturen an zwei unteren Rippen sowie schwere Prellungen an der rechten Schulter erlitten, ferner

Weitere Kostenlose Bücher