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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
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hören. Nach einer Weile gingen sie, und er bestellte sich noch einen Punsch. Er blieb lange dabei sitzen. In der Gaststube war es sehr still. Der Wirt lehnte breit auf der Theke und las gähnend den Herald . Ab und zu hörte man draußen eine Straßenbahn die einsame Straße entlangrasseln.
    Während er so dasaß, die Zeit mit ihr noch einmal durchlebte und sich abwechselnd die beiden Bilder vor Augen rief, in denen er sie sich nunmehr vorstellte, da wurde ihm klar, dass sie tot war, dass sie nicht mehr existierte, dass sie nur noch eine Erinnerung war. Er begann, sich unbehaglich zu fühlen. Er fragte sich, was er anderes hätte tun sollen. Er hätte mit ihr keine Komödie der Täuschungen fortführen können; er hätte mit ihr nicht offen zusammenleben können. Er hatte getan, was ihm als das Beste erschien. Wie sollte ihn eine Schuld treffen? Jetzt, da sie nicht mehr lebte, wurde ihm klar, wie einsam sie gewesen sein musste, wenn sie Abend für Abend allein in jenem Zimmer saß. Auch sein Leben würde einsam sein, bis auch er starb, nicht mehr existierte, nur noch eine Erinnerung war – falls sich irgendwer an ihn erinnerte.
    Es war nach neun Uhr, als er die Wirtschaft verließ. Die Nacht war kalt und finster. Er betrat den Park durch das erste Tor und ging unter den kahlen Bäumen entlang. Er folgte den zugigen Wegen, die sie vor vier Jahren auch gegangen waren. Sie schien ihm nahe zu sein in der Dunkelheit. In manchen Augenblicken kam es ihm so vor, als berührte ihre Stimme sein Ohr, ihre Hand die seine. Er blieb stehen und lauschte. Warum hatte er ihr das Leben verweigert? Warum hatte er sie zum Tode verurteilt? Er fühlte, wie sein sittliches Ich in Scherben ging.
    Als er oben auf dem Magazine Hill angelangt war, blieb er stehen und sah den Fluss entlang nach Dublin, dessenLichter in der kalten Nacht rötlich und einladend brannten. Er schaute den Hang hinunter und sah unten im Schatten der Parkmauer einige menschliche Gestalten liegen. Diese Liebe, käuflich und verstohlen, erfüllte ihn mit Verzweiflung. Er nagte an der Redlichkeit seines Lebens; er fühlte, dass er vom Fest des Lebens ausgeschlossen worden war. Ein einziger Mensch schien ihn geliebt zu haben, und ihr hatte er Leben und Glück verweigert: Er hatte sie zu Schande, zu einem schmählichen Tod verurteilt. Er wusste, dass die liegenden Gestalten da unten an der Mauer ihn beobachteten und wegwünschten. Niemand wollte ihn; er war vom Fest des Lebens ausgeschlossen. Er wandte seine Augen dem grau schimmernden Fluss zu, der sich Dublin entgegenwand. Auf der anderen Flussseite sah er einen Güterzug, der sich aus dem Bahnhof Kingsbridge wand wie ein Wurm mit einem feurigen Kopf, der sich beharrlich und mühsam durch die Finsternis windet. Langsam verlor er ihn aus den Augen, aber noch immer klang in seinen Ohren das mühsame Schnaufen der Lokomotive, mit dem sie die Silben ihres Namens monoton wiederholte.
    Er ging den Weg zurück, den er gekommen war, und der Rhythmus der Lokomotive pochte in seinen Ohren. Er bezweifelte allmählich die Wirklichkeit dessen, was die Erinnerung ihm sagte. Er blieb unter einem Baum stehen, bis der Rhythmus erstorben war. Er konnte ihre Nähe in der Dunkelheit nicht mehr fühlen und auch nicht, wie ihre Stimme sein Ohr berührte. Er wartete einige Minuten und lauschte. Er konnte nichts hören; die Nacht war vollkommen still. Er lauschte noch einmal: vollkommen still. Er fühlte, dass er allein war.

E FEU- T AG IM S ITZUNGSZIMMER
    Old Jack scharrte mit einem Stück Pappe die glühenden Aschekrumen zusammen und streute sie vorsichtig über die sich weiß färbende Kuppe der Kohlen. Als die Kuppe dünn bedeckt war, verschwand sein Gesicht im Dunkeln, aber während er das Feuer anfachte, kroch sein gebeugter Schatten die gegenüberliegende Wand hinauf, und auf sein Gesicht fiel allmählich wieder ein Lichtschein. Es war das Gesicht eines alten Mannes, sehr hager und dicht behaart. Seine wässrigen blauen Augen blinzelten ins Feuer, und der feuchte Mund öffnete sich ab und zu und machte, wenn er sich wieder schloss, ein paarmal unwillkürliche Kaubewegungen. Als kleine Flammen aus der Asche aufstiegen, lehnte er das Stück Pappe mit einem Seufzer an die Wand und sagte:
    – So ist’s besser, Mr O’Connor.
    Mr O’Connor, ein grauhaariger junger Mann, dessen Gesicht von vielen Flecken und Pickeln entstellt war, hatte gerade den Tabak für eine Zigarette zu einem wohlgeformten Zylinder gerollt, aber als er angesprochen

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