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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
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hindeutete. Im Mittelalter hätte ihn ein Arzt saturnisch * genannt. Sein Gesicht, das seine ganze Lebensgeschichte erzählte, hatte die bräunliche Färbung der Dubliner Straßen. Auf seinem länglichen und ziemlich großen Kopf wuchs struppiges schwarzes Haar, und ein gelbbrauner Schnurrbart verbarg nur unvollkommen den unliebenswürdigen Mund. Auch die Backenknochen gaben seinem Gesicht einen abweisenden Ausdruck; hingegen waren seine Augen, die unter gelbbraunen Brauen in die Welt blickten, keineswegs abweisend, sondern schienen die eines Mannes zu sein, der immer gewillt ist, in anderen Menschen willkommen zu heißen, was für sie sprechen könnte, der aber schon oft enttäuscht worden ist. Er lebte in einem gewissen Abstand zu seinem Körper und betrachtete sein eigenes Tun mit skeptischen Seitenblicken. Eine sonderbare Neigung zur Selbstbeschreibung veranlasste ihn von Zeit zu Zeit, in Gedanken einen kurzen Satz über sich zu verfassen, der ein Subjekt in der dritten Person und ein Prädikat in der Vergangenheitsform enthielt. Bettlern gab er nie ein Almosen; und er ging mit festem Schritt, einen dicken Haselnussstock in der Hand.
    Seit vielen Jahren schon war er Kassierer bei einer Privatbank in der Baggot Street. Er kam jeden Morgen von Chapelizod mit der Straßenbahn. Mittags ging er zu DanBurke’s, um etwas zu essen – eine Flasche Lager-Bier und einen kleinen Teller Zwieback. Um vier Uhr nachmittags war er wieder frei. Dann aß er in einem Gasthaus in der George’s Street, wo er sich vor der Gesellschaft der Jeunesse dorée Dublins sicher fühlte und wo die Speisekarte von einer gewissen schlichten Redlichkeit war. Seine Abende verbrachte er entweder am Klavier seiner Zimmerwirtin oder mit Spaziergängen in den Außenbezirken der Stadt. Seine Liebe zur Musik Mozarts führte ihn gelegentlich in eine Oper oder ein Konzert: Dies waren seine einzigen Zerstreuungen.
    Er hatte weder Bekannte noch Freunde, weder Kirche noch Glaubensbekenntnis. Sein geistiges Leben lebte er, ohne mit anderen Verbindung zu haben. Weihnachten besuchte er seine Verwandten, und wenn sie gestorben waren, geleitete er sie zum Friedhof. Diese beiden gesellschaftlichen Pflichten erfüllte er anstandshalber, aber darüber hinaus machte er den Gepflogenheiten, die das bürgerliche Leben regeln, keinerlei Zugeständnisse. Er gestattete sich die Vorstellung, dass er unter gewissen Umständen seine Bank berauben würde, doch da sich diese Umstände nie ergaben, ging sein Leben gleichförmig dahin – eine Geschichte ohne Abenteuer.
    Eines Abends saß er in der Rotunda * zufällig neben zwei Damen. Das Haus, nur schwach besucht und still, verhieß auf beklemmende Weise Misserfolg. Die Dame neben ihm sah sich in dem menschenleeren Haus mehrmals um und sagte dann:
    – Wie schade, dass heute so wenig Publikum da ist. Es ist für die Leute nicht leicht, vor leeren Stühlen singen zu müssen.
    Er verstand diese Bemerkung als Einladung zu einer Unterhaltung, und es überraschte ihn, wie wenig schüchtern sie wirkte. Während sie miteinander sprachen, versuchteer, sie seinem Gedächtnis fest einzuprägen. Als er erfuhr, das junge Mädchen neben ihr sei ihre Tochter, schätzte er, dass sie etwa ein Jahr jünger war als er. Ihr Gesicht, das einmal hübsch gewesen sein musste, hatte sich einen klugen Ausdruck bewahrt. Es war oval und hatte stark ausgeprägte Züge. Die ruhigen Augen waren von einem sehr dunklen Blau. Ihr Blick war anfangs trotzig, dann aber verschwammen Pupille und Iris, vielleicht absichtsvoll, ineinander, und für eine ganz kurze Zeit gab sich darin eine höchst empfindsame Wesensart zu erkennen. Die Pupille grenzte sich jedoch schnell wieder ab, diese flüchtig offenbarte Seite ihres Wesens unterwarf sich erneut der Vernunft, und ihre Astrachanjacke * , die dem Busen eine gewisse Fülle verlieh, brachte jenes Trotzige nur noch deutlicher zum Ausdruck.
    Ein paar Wochen danach traf er sie bei einem Konzert in der Earlsfort Terrace wieder, und jedes Mal, wenn ihre Tochter abgelenkt war, ergriff er die Gelegenheit und wurde vertraulich. Ein- oder zweimal erwähnte sie zwar ihren Ehemann, aber in einem Ton, der dies nicht als Warnung erscheinen ließ. Ihr Name war Mrs Sinico. Der Ururgroßvater ihres Mannes stammte aus Livorno. Ihr Mann selbst war Kapitän auf einem Handelsschiff, das zwischen Dublin und Holland verkehrte; und sie hatten ein Kind.
    Als er sie zufällig ein drittes Mal traf, wagte er eine Verabredung. Sie kam. Es wurde

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