Dubliner (German Edition)
für so ein übles Blatt schreiben! Ich hätte nicht gedacht, dass Sie ein West-Brite * sind.
Gabriel machte ein verblüfftes Gesicht. Es stimmte, dass er für den Daily Express jeden Mittwoch eine Kolumne schrieb, für die er fünfzehn Shilling bekam. Das machte ihn aber doch noch nicht zu einem West-Briten. Die Bücher für die Besprechung waren ihm fast willkommener als der bescheidene Scheck. Er genoss es, die neuen Einbände anzufassen und die frisch bedruckten Seiten umzublättern. Fast täglich, wenn sein Unterricht im College zu Ende war, schlenderte er am Flussufer entlang zu den Antiquariaten, zu Hickey am Bachelor’s Walk, zu Webb oder Massey am Aston’s Quay oder zu O’Clohissey in dem Seitensträßchen. Er wusste nicht recht, wie er auf ihre Anschuldigung reagieren sollte. Er wollte sagen, dass Literatur über alle Politik erhaben sei. Aber sie waren seit vielen Jahren befreundet und hatten denselben Weg eingeschlagen, zuerst an der Universität und dann als Lehrer: Da konnte er ihr nicht mit hochtrabenden Worten kommen. Er blinzelte noch immer und versuchte zu lächeln und murmelte halbherzig, er sehe nichts Politisches darin, Buchbesprechungen zu schreiben.
Als sie an der Reihe waren, die Seiten zu wechseln, war er immer noch verwirrt und unaufmerksam. Prompt nahm ihn Miss Ivors sanft bei der Hand und sagte mit leiser, freundlicher Stimme:
– Das war natürlich nur Spaß. Kommen Sie, wir müssen jetzt hinüberwechseln.
Als sie wieder beieinanderstanden, sprach sie von demUniversitätsproblem * , und Gabriel wurde entspannter. Eine Freundin habe ihr seine Besprechung von Brownings Gedichten gezeigt. Auf diese Weise sei sie hinter das Geheimnis gekommen, aber seine Besprechung habe ihr außerordentlich gut gefallen. Plötzlich sagte sie:
– Ach, Mr Conroy, wollen Sie nicht im Sommer mitkommen zu einem Urlaub auf den Aran-Inseln * ? Wir bleiben einen ganzen Monat dort. Es wird herrlich sein, da draußen im Atlantik. Sie sollten mitkommen. Mr Clancy kommt auch und Mr Kilkelly und Kathleen Kearney. Gretta würde es auch gut gefallen, wenn sie mitkäme. Sie stammt doch aus Connacht, nicht wahr?
– Ihre Familie, ja, sagte Gabriel knapp.
– Aber Sie werden doch kommen, oder?, frage Miss Ivors und legte ihre warme Hand erwartungsvoll auf seinen Arm.
– Nun, es ist so, sagte Gabriel, dass ich schon eine Reise geplant habe, und zwar ...
– Wohin denn?, fragte Miss Ivors.
– Ja, wissen Sie, ich mache jedes Jahr mit einigen Freunden eine Fahrradtour, und ...
– Aber wohin?, fragte Miss Ivors.
– Nun, meistens fahren wir nach Frankreich oder Belgien oder manchmal Deutschland, sagte Gabriel verlegen.
– Und weshalb fahren Sie nach Frankreich oder Belgien, fragte Miss Ivors, anstatt Ihre Heimat zu bereisen?
– Na ja, sagte Gabriel, teils um die Sprachen zu üben und teils zur Abwechslung.
– Aber haben Sie nicht Ihre eigene Sprache, die Sie üben könnten – die irische?, fragte Miss Ivors.
– Also, wenn Sie mich so fragen, sagte Gabriel, Irisch * ist nicht meine Sprache.
Die Tänzer in ihrer Nähe, die dieses Verhör mitbekommen hatten, wandten sich um. Gabriel sah nervös nach rechts und links und bemühte sich, trotz dieser quälendenBefragung, die ihm die Röte ins Gesicht trieb, seine gute Laune zu bewahren.
– Und sollten Sie nicht lieber Ihr eigenes Land besuchen, fragte Miss Ivors weiter, über das Sie nichts wissen, Ihr eigenes Volk und Ihre eigene Heimat?
– Also, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, versetzte Gabriel plötzlich, ich habe mein eigenes Land satt! Ich hab’s satt!
– Warum?, fragte Miss Ivors.
Gabriel antwortete nicht, denn ihm war von seiner heftigen Antwort heiß geworden.
– Warum?, wiederholte Miss Ivors.
Sie mussten die Partner wechseln, und da er ihr nicht geantwortet hatte, sagte Miss Ivor hitzig:
– Darauf haben Sie natürlich keine Antwort.
Gabriel versuchte seine Erregung zu verbergen, indem er sich umso eifriger dem Tanz widmete. Er wich ihrem Blick aus, denn er hatte in ihrem Gesicht einen Ausdruck von Bitterkeit gesehen. Als sie sich in der langen Reihe wieder begegneten, war er jedoch überrascht, als er spürte, wie sie seine Hand fest drückte. Einen Augenblick lang sah sie ihn von unten herauf fragend an, bis er lächeln musste. Und dann, gerade als die Kette sich wieder in Bewegung setzte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte in sein Ohr:
– West-Brite!
Als die Quadrille vorbei war, ging Gabriel in eine entfernte
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