Dubliner (German Edition)
Gottes, Tante Kate?, fragte Mary Jane, die sich auf ihrem Klavierhocker umgedreht hatte und lächelte.
Erregt fuhr Tante Kate ihre Nichte an:
– Von der Ehre Gottes musst du mir nichts sagen, Mary Jane, aber ich finde es nicht besonders ehrenhaft, wenn der Papst die Frauen aus den Chören ausschließt * , für die sie sich ein Leben lang abgerackert haben, und wenn er ihnen Grünschnäbel vor die Nase setzt. Vermutlich geschieht es zur Ehre der Kirche, wenn der Papst das tut. Aber gerecht ist es nicht, Mary Jane, und richtig ist es auch nicht.
Sie hatte sich in Rage geredet und hätte noch mehr zurVerteidigung ihrer Schwester gesagt, denn dies war ein wunder Punkt für sie, aber Mary Jane, die sah, dass alle Tänzer zurückgekommen waren, unterbrach beschwichtigend:
– Aber Tante Kate, was soll denn nur Mr Browne denken? Er gehört doch zur anderen Kirche.
Tante Kate sah Mr Browne an, der bei dieser Anspielung auf seine Konfession grinste, und sagte hastig:
– Oh, ich bezweifle nicht, dass der Papst recht hat. Ich bin nur eine törichte alte Frau und würde mir das nie anmaßen. Aber es gibt so etwas wie normale alltägliche Höflichkeit und Dankbarkeit. Und an Julias Stelle würde ich das Father Healy glatt ins Gesicht sagen ...
– Und außerdem, Tante Kate, sagte Mary Jane, sind wir alle schrecklich hungrig, und wenn wir hungrig sind, werden wir alle ganz ungehalten.
– Und wenn wir durstig sind, werden wir auch ganz ungehalten, setzte Mr Browne hinzu.
– Also sollten wir jetzt zu Abend essen, sagte Mary Jane, und diese Diskussion hinterher fortsetzen.
Auf dem Treppenabsatz vor dem Salon traf Gabriel auf seine Frau und Mary Jane, die sich bemühten, Miss Ivors zu überreden, zum Abendessen dazubleiben. Aber Miss Ivors, die schon ihren Hut aufgesetzt hatte und dabei war, ihren Mantel zuzuknöpfen, wollte nicht bleiben. Sie sei überhaupt nicht hungrig und sei ohnehin schon länger geblieben als beabsichtigt.
– Nur zehn Minuten, Molly, sagte Mrs Conroy. So viel Zeit werden Sie doch haben.
– Auf einen Happen, sagte Mary Jane, nach Ihrem vielen Tanzen.
– Ich kann wirklich nicht, sagte Miss Ivors.
– Ich fürchte, es hat Ihnen bei uns überhaupt nicht gefallen, sagte Mary Jane traurig.
– Doch, sehr, glauben Sie mir, sagte Miss Ivors, aber jetzt müssen Sie mich gehen lassen.
– Und wie kommen Sie nach Hause?, fragte Mrs Conroy.
– Ach, es sind ja nur ein paar Schritte am Fluss entlang.
Gabriel zögerte einen Augenblick und sagte dann:
– Wenn Sie gestatten, Miss Ivors, bringe ich Sie nach Hause, falls Sie wirklich schon gehen müssen.
Aber Miss Ivors machte sich von ihnen los.
– Auf gar keinen Fall!, rief sie. Gehen Sie um Himmels willen hinein zum Essen und machen Sie sich wegen mir keine Gedanken. Ich kann ganz gut auf mich aufpassen.
– Also, Sie sind wirklich ein komisches Mädchen, Molly, sagte Mrs Conroy unverblümt.
– Beannacht libh! * , rief Miss Ivors mit einem Lachen, als sie die Treppe hinunterlief.
Mary Jane sah ihr verdrossen und verwundert nach, während Mrs Conroy sich über das Geländer beugte und auf das Zuschnappen der Haustür horchte. Gabriel überlegte, ob er vielleicht der Grund für ihren plötzlichen Abschied war. Aber es hatte nicht so ausgesehen, als sei sie schlechter Laune: Sie hatte ja beim Weggehen gelacht. Ratlos starrte er in das Treppenhaus.
In diesem Augenblick kam Tante Kate aus dem Speisezimmer gewackelt, vor Verzweiflung geradezu die Hände ringend.
– Wo ist Gabriel?, rief sie. Wo um alles in der Welt steckt Gabriel? Da drinnen warten sie, alles ist vorbereitet, und niemand ist da, um die Gans zu tranchieren!
– Hier bin ich, Tante Kate!, rief Gabriel, plötzlich wieder ganz lebendig und bereit, wenn nötig, eine ganze Schar von Gänsen zu tranchieren.
Eine fette gebratene Gans lag am einen Ende der Tafel, und am anderen Ende lag auf einem Bett von zerknittertem, mit Petersilienstängeln dekoriertem Papier ein großerSchinken, dessen äußere Kruste entfernt und der mit gerösteten Brotkrumen bestreut war. Um den Knochen hatte er eine saubere Papiermanschette, und daneben lag ein großes Stück gewürzter Rinderbraten. Zwischen diesen rivalisierenden Tischenden waren Beilagen in parallelen Reihen aufgestellt: zwei kleine Gefäße mit rotem und gelbem Gelee; eine flache Schale mit Flammeri in Würfelform mit roter Konfitüre; eine große grüne Schale in Form eines Blattes mit einem stielförmigen Griff, auf der sich dunkelrote
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