Dubliner (German Edition)
und ihn mit ihren forschenden Augen kritisch ansehen würde, während er seine Rede hielt. Vielleicht täte es ihr gar nicht leid, wenn ihm seine Rede missglückte. Dann kam ihm ein Gedanke, der ihm Auftrieb gab. Er würde in Anspielung auf Tante Kate und Tante Julia sagen: Meine Damen und Herren, die Generation, die im Begriff ist, aus unserer Mitte zu schwinden, mag ihre Schwächen gehabt haben, aber ich für meinen Teil denke, dass sie gewisse Qualitäten der Gastlichkeit besaß, des Humors, der Menschlichkeit, welche der neuen, so strengen und überintellektuellen Generation, die um uns herum heranwächst, meinem Eindruck zufolge fehlen. Sehr gut: das war auf Miss Ivors gemünzt. Was kümmerte es ihn, dass seine Tanten nur zwei ungebildete alte Frauen waren?
Ein Murmeln im Zimmer weckte seine Aufmerksamkeit. Mr Browne näherte sich von der Tür her. Galant geleitete er Tante Julia, die sich lächelnd und mit gesenktem Kopf auf seinen Arm stützte. Ein Applaus begleitete sie wie unregelmäßiges Musketenfeuer bis zum Klavier, und dann, während Mary Jane auf dem Klavierstuhl Platz nahm und Tante Julia, die jetzt nicht mehr lächelte, eine halbe Drehung machte, um ihre Stimme direkt in den Raum zu projizieren, verebbte er allmählich. Gabriel erkannte das Präludium. Es gehörte zu einem von Tante Julias alten Liedern – Geschmückt für die Hochzeit * . Ihre kräftige, klare Stimme ging die Koloraturen, die die Melodie ausschmücken, voller Energie an, und obwohl sie sehr schnell sang, ließ sieauch nicht die kleinste Verzierungsnote aus. Wenn man nur zuhörte, ohne auf das Gesicht der Sängerin zu achten, war es, als teile man mit ihr das erregende Gefühl, schnell und sicher dahinzufliegen. Gabriel klatschte wie alle anderen laut, als das Lied zu Ende war, und lauter Applaus drang von der unsichtbaren Abendtafel herüber. Es klang so aufrichtig, dass eine leichte Röte zögernd in Tante Julias Gesicht stieg, als sie sich bückte, um das alte, ledergebundene Liederbuch, das ihre Initialen auf dem Einband trug, in das Notenregal zurückzulegen. Freddy Malins, der den Kopf etwas zur Seite gedreht hatte, um besser hören zu können, klatschte noch immer, als alle anderen schon aufgehört hatten, und unterhielt sich dabei angeregt mit seiner Mutter, die zum Zeichen ihrer Zustimmung ernst und langsam nickte. Als er schließlich nicht mehr klatschen konnte, stand er plötzlich auf und eilte hinüber zu Tante Julia, ergriff ihre Hand mit beiden Händen und schüttelte sie jedes Mal, wenn ihm die Worte fehlten oder das Stocken in seiner Stimme ihn am Weiterreden hinderte.
– Gerade habe ich meiner Mutter erzählt, sagte er, dass ich Sie noch nie so wunderbar habe singen hören – nie! Nein, noch nie war Ihre Stimme so schön wie heute Abend. Doch. Glauben Sie’s mir doch. Das ist die Wahrheit. Mein Ehrenwort, das ist die Wahrheit. Ich habe Ihre Stimme noch nie so frisch gehört und so ... so klar und frisch – nie.
Tante Julia lächelte über das ganze Gesicht und murmelte etwas von Komplimenten, während sie ihre Hand aus seinem Griff befreite. Mr Browne wies mit der ausgestreckten offenen Hand auf sie und sagte zu denen, die in seiner Nähe standen, im Ton eines Impresarios, der seinem Publikum ein Wunderkind vorstellt:
– Miss Julia Morkan, meine jüngste Entdeckung!
Er selbst lachte darüber noch immer sehr herzlich, als Freddy Malins sich zu ihm wandte und sagte:
– Nun, Browne, wenn du das ernst meinst, dann hättest du eine schlechtere Entdeckung machen können. Ich kann nur sagen, dass ich sie noch nie halb so gut habe singen hören, solang ich hierherkomme. Und das ist die reine Wahrheit.
– Ich auch nicht, sagte Mr Browne. Ich glaube, ihre Stimme hat sich sehr entwickelt.
Tante Julia zuckte mit den Schultern und sagte mit verhaltenem Stolz:
– Vor dreißig Jahren war meine Stimme gar nicht so schlecht.
– Wie oft habe ich zu Julia gesagt, sagte Tante Kate mit Nachdruck, dass sie für diesen Chor einfach zu schade ist. Aber von mir lässt sie sich ja nichts sagen.
Als hätte sie es mit einem widerspenstigen Kind zu tun, sah sie die anderen hilfesuchend an, während Tante Julia ins Leere blickte, ein vages Lächeln der Erinnerung auf ihren Lippen.
– Nein, fuhr Tante Kate fort, von niemandem lässt sie sich raten oder etwas sagen und rackert sich Tag und Nacht für diesen Chor ab, Tag und Nacht. Um sechs Uhr früh am Weihnachtstag! Und wofür das alles?
– Nun, ist es nicht zur Ehre
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