Duddits - Dreamcatcher
wollten ihren Sohn holen.
Da pochte die Faust wieder an die Tür, dass die Bilderrahmen an den Wänden erzitterten. In einem war eine Titelseite der Derry News. Das Foto zeigte Duddits, seine Freunde und Josie Rinkenhauer, die alle die Arme umeinander gelegt hatten und über sämtliche Wangen strahlten (wie gut Duddits auf diesem Bild aussah, wie stark und normal), und die Schlagzeile darüber lautete: SCHULKINDER SPIELEN DETEKTIV UND FINDEN VERMISSTES MÄDCHEN.
Bum! Bum! Bum!
Nein, dachte sie, ich bleibe einfach hier sitzen, und irgendwann gehen sie dann wieder weg, sie müssen einfach wieder weggehen, denn Tote muss man hereinbitten, und wenn ich hier sitzen bleibe und –
Aber dann lief Duddits an ihrem Schaukelstuhl vorbei – er lief, wo es ihn heutzutage doch schon erschöpfte, einfach nur zu gehen, und in seinen Augen lag wieder der alte Glanz, sie waren so gute Jungs gewesen und hatten ihn so glücklich gemacht, aber jetzt waren sie tot, sie kamen durch den Sturm zu ihm und waren tot –
»Duddie, nicht!«, rief sie, aber er achtete nicht auf sie. Er eilte an der gerahmten Zeitungsseite vorbei – Duddits Cavell auf der Titelseite, Duddits Cavell ein Held, es geschehen noch Zeichen und Wunder! –, und sie hörte, was er rief, als er im abebbenden Sturm die Tür aufmachte: »Ennie! Ennie! ENNIE!«
8
Henry machte den Mund auf – aber was er sagen sollte, wusste er nicht, und dann kam auch nichts. Er war wie vom Schlag gerührt. Das war nicht Duddits, konnte nicht Duddits sein – das war irgendein kranker Onkel oder älterer Bruder, blass und unter der hochgeschobenen Red-Sox-Kappe anscheinend auch kahlköpfig. Er hatte stoppelige Wangen, getrocknetes Blut um die Nasenlöcher und tiefe dunkle Ringe unter den Augen. Und doch –
»Ennie! Ennie! Ennie!«
Der große, blasse Fremde da in der Tür warf sich Henry so überschwänglich entgegen wie früher Duddits immer und stieß ihn auf der verschneiten Eingangstreppe nicht durch sein Gewicht um – er war so leicht wie eine Feder –, sondern weil Henry auf diesen Überfall nicht gefasst war. Wenn Owen ihn nicht gehalten hätte, wäre er mit Duddits in den Schnee gepurzelt.
»Ennie! Ennie!«
Lachend. Weinend. Ihn auf seine alte Weise abknutschend. Ganz weit hinten im Lagerhaus seiner Erinnerungen sagte Biber Clarendon: Wenn ihr irgendwem erzählt, dass ich das gemacht habe … Und Jonesy entgegnete: Ja, ja, dann redest du kein Wort mehr mit uns, du blöder Wichser. Es war eindeutig Duddits, der Henry da die mit Byrus übertupften Wangen abknutschte … aber diese fahlen Wangen, was war das? Und er war auch so dünn – nein, mehr als nur das, abgezehrt –, und was war das? Das Blut an seinen Nasenlöchern, der Geruch, der von seiner Haut ausging … es war nicht der gleiche Geruch, der von Becky Shue ausgegangen war, und nicht ein Geruch wie in ihrer zugewucherten Hütte, aber dennoch war es ein tödlicher Geruch.
Und da war Roberta, sie stand im Flur neben einem Foto, das Duddits und Alfie zeigte, wie sie bei den Derry Days lachend Karussell fuhren und die wild blickenden Plastikpferde dabei ganz klein wirkten.
Bin nicht zu Alfies Beerdigung gegangen, habe aber eine Karte geschickt, dachte Henry und verabscheute sich selbst.
Sie rang die Hände, ihre Augen schwammen in Tränen, und obwohl sie an Brust und Hüfte zugenommen hatte und ihr Haar jetzt fast gänzlich ergraut war, hatte Henry sie auf Anhieb erkannt, aber Duddits … o Mann, Duddits …
Henry sah sie an und umarmte seinen alten Freund, der immer noch seinen Namen rief. Er tätschelte Duddits’ Schulterblatt. Es fühlte sich so leicht und zerbrechlich an wie die Knochen eines Vogelflügels.
»Roberta«, sagte er. »Roberta, mein Gott! Was hat er denn?«
»A. L. L.«, sagte sie und brachte ein mattes Lächeln zustande. »Das steht für akute lymphatische Leukämie. Sie haben es vor neun Monaten bei ihm diagnostiziert, und da war eine Heilung schon nicht mehr möglich. Und seitdem kämpfen wir gegen die Zeit an.«
»Ennie!«, rief Duddits. Das alte blöde Lächeln ließ sein graues, abgezehrtes Gesicht erstrahlen. »Säbe Scheise, anner Tach!«
»Stimmt«, sagte Henry und fing an zu weinen. »Selbe Scheiße, anderer Tag.«
»Ich weiß, warum ihr hier seid«, sagte Roberta. »Aber bitte nicht. Bitte, Henry. Ich flehe dich an. Nimm mir nicht meinen Jungen weg. Er stirbt.«
9
Kurtz wollte Perlmutter eben nach dem neuesten Stand bei Underhill und seinem neuen Freund fragen – Henry
Weitere Kostenlose Bücher