Duddits - Dreamcatcher
kippte dabei ihre Kaffeetasse um. Der Kaffee ergoss sich über die Fernsehzeitschrift und ertränkte die Besetzungsliste der Sopranos in einer braunen Pfütze.
Dem Schrei folgten schrille, hysterische Schluchzer, die Schluchzer eines Kindes. Aber so war das mit Duddits: Er war jetzt Mitte dreißig, würde aber als Kind sterben, ehe er die vierzig erreichte.
Für einen Augenblick konnte sie einfach nur dastehen. Schließlich setzte sie sich in Bewegung und wünschte sich, Alfie wäre da … oder besser noch einer der Jungs. Die waren jetzt natürlich keine Jungs mehr; nur Duddits war immer noch ein Junge; das Downsyndrom hatte einen Peter Pan aus ihm gemacht, und bald würde er im Nimmerland sterben.
»Ich komme, Duddie!«, rief sie, und das tat sie dann auch, obwohl sie sich alt vorkam, als sie den Flur entlang zum hinteren Schlafzimmer eilte, das Herz ihr unstet an die Rippen pochte und Arthritis sie in der Hüfte kniff. Ihr stand kein Nimmerland bevor.
»Ich komme! Mami kommt!«
Schluchzend und noch einmal schluchzend, als wäre sein Herz gebrochen. Er hatte zum ersten Mal aufgeschrien, als er mitbekommen hatte, dass sein Zahnfleisch blutete, nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, aber richtig geschrien hatte er nie, und es war Jahre her, dass er so geweint hatte, mit diesem hemmungslosen Schluchzen, das einem nicht mehr aus dem Kopf ging und einen schier wahnsinnig machte.
»Duddie, was ist denn?«
Sie platzte in sein Zimmer, schaute ihn mit großen Augen an und ging zunächst davon aus, dass er blutete, dass sie tatsächlich Blut sah. Aber da war nur Duddits, der in seinem hochgekurbelten Krankenhausbett mit tränenüberströmten Wangen vor und zurück schaukelte. Seine Augen zeigten noch dasselbe strahlende Grün, aber sonst war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Sein Haar war auch verschwunden, das hübsche blonde Haar, das sie immer an den jungen Art Garfunkel erinnert hatte. Sein Schädel schimmerte im matten Winterlicht, das durchs Fenster drang und auch auf die Flaschen schien, die auf dem Nachttisch aufgereiht standen (Tabletten gegen Infektionen und Tabletten gegen Schmerzen, aber keine Tabletten, die aufgehalten oder auch nur verlangsamt hätten, was mit ihm geschah), schimmerte auch auf dem Infusionsständer, der zurzeit nicht benutzt wurde, nur zu bald aber wieder in Gebrauch sein würde.
Aber sie konnte ihm nichts ansehen. Nichts, was seinen schon fast grotesk schmerzverzerrten Gesichtsausdruck erklärt hätte.
Sie setzte sich zu ihm, nahm seinen sich unablässig schüttelnden Kopf und hielt ihn sich an die Brust. Obwohl er so aufgewühlt war, fühlte sich seine Haut kühl an; sein ausgelaugtes, sterbendes Blut konnte seinem Gesicht keine Wärme spenden. Sie musste daran denken, wie sie vor langer Zeit auf der Highschool Dracula gelesen hatte und das wohlige Gruseln gar nicht mehr so wohlig gewesen war, sobald sie im Bett lag, das Licht gelöscht war und Schatten ihr Zimmer erfüllten. Sie wusste noch, dass sie heilfroh gewesen war, dass es in Wirklichkeit gar keine Vampire gab. Heute wusste sie es besser. Einen Vampir gab es durchaus, und der war viel angsteinflößender als irgendein Graf aus Transsilvanien; und er hieß nicht Dracula, sondern Leukämie, und man konnte ihm keinen Pfahl durchs Herz rammen.
»Duddits, Duddie, Schatz, was ist denn?«
Und da schrie er, als er so an ihrer Brust lag, und ließ sie alles vergessen, was sich möglicherweise oben in Jefferson Tract abspielte, jagte ihr einen kalten Schauer über die Kopfhaut und eine Gänsehaut über den ganzen Körper. »Iehr-od! Iehr-od! O-Amma, Iehr-od!« Es war unnötig, ihn zu bitten, es zu wiederholen oder noch einmal deutlicher zu sagen; sie hatte ihm sein ganzes Leben lang zugehört und verstand ihn auf Anhieb:
Biber ist tot! Biber ist tot! O Mama, Biber ist tot!
Kapitel 9
Pete und Becky
1
Pete lag schreiend in der zugeschneiten Fahrspur, in die er gestürzt war, bis er nicht mehr schreien konnte, und dann lag er dort einfach nur noch eine Zeit lang und versuchte, mit dem Schmerz klarzukommen. Es gelang ihm nicht. Es waren erbarmungslose Schmerzen, Blitzkriegsqualen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es solche Schmerzen überhaupt geben konnte – und hätte er es gewusst, dann wäre er bestimmt bei der Frau geblieben. Bei Marcy, nur dass sie gar nicht Marcy hieß. Ihr richtiger Name lag ihm fast auf der Zunge, aber was machte das schon? Er war es, der hier in Schwierigkeiten steckte. Der Schmerz stieg in
Weitere Kostenlose Bücher