Duenne Haut - Kriminalroman
Station.
Er überfliegt nochmals die ersten Absätze. Marie Therese Herbst, geboren 1976 in Ostberlin. Die Mutter, Sophie Winter, von Beruf Schauspielerin, stammt aus der Schweiz, der Vater, Rainer Herbst, Volkspolizist, aus dem Osten Berlins. Kennengelernt haben sich die Eltern bei einem von Sophies zahlreichen Besuchen in der ehemaligen Hauptstadt der DDR, als sie Theaterseminare an der Volksbühne und im Berliner Ensemble besuchte. Rainer wohnte in Hohenschönhausen, und ebendort liefen sie einander über den Weg. Keine fünfhundert Meter entfernt vom Stasi-Gefängnis bat sie ihn auf offener Straße um Feuer. Dabei entflammte die Liebe zwischen dem
spröden
Volkspolizisten und der
eloquenten, weltgewandten
Tochter aus gutbürgerlichem Baseler Haus.
Aus unerfindlichen Gründen
. Sachs springt hinunter zu einer Fußnote. Alle kursiv gesetzten Kommentare Marie Thereses zu ihren Eltern würden wortwörtlich wiedergegeben, hat Dr. Westhäußer vermerkt. Sie erschienen ihm schon deshalb als signifikant, weil Marie Therese diese Ausdrücke immer besonders betone. Wie auch das folgende Wortspiel.
Eine Liebe zwischen Herbst und Winter. Was soll dabei schon herauskommen?
Aus Erzählungen wusste Marie Therese, dass ihre Eltern gemeinsam Theatervorstellungen besucht hatten. Einmal sahen sie im Volkstheater eine milde Satire aus der Feder eines volkseigenen Dramatikers auf die Verhältnisse in den volkseigenen Betrieben, woraus sie irrtümlicherweise schlossen, dass das Klima langsam besser wurde, offener. Ein knappes Jahr darauf, am 25. August 1976, kam Sophie mit Marie Therese nieder, Witz und Optimismus aber schwanden. Nicht nur deshalb, weil das Kind das Licht der demokratischsten aller Republiken am Geburtstag von
unserem Erich
erblickte, dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED. Vater Rainer wurde befördert und gleichzeitig in eine Spezialeinheit außerhalb Berlins versetzt. Was er dort trieb oder zu treiben hatte, durfte er nicht einmal seiner Frau sagen. Sie vermutete, dass es mit dem allgegenwärtigen Thema Grenzsicherung zusammenhing, aber um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen, stellte sie keine Fragen. Das Baby schrie viel und laut in diesen Tagen, viel zu laut jedenfalls für die dünnen Wände in Hohenschönhausen. Die Nachbarn beschwerten sich, indem sie mit dem Besenstiel an die Wand klopften, was
das Baby
auch nicht beruhigte. (Als Fußnote findet sich wieder eine Anmerkung Dr. Westhäußers, wonach die Patientin, wenn sie von sich selbst als Kleinkind erzähle, nie ihren eigenen Namen verwende.) Der Vater fand es offenbar dekadent, Geburtstage zu feiern. Bei Marie Thereses erstem konnte die Mutter sich das letzte Mal durchsetzen, doch mehr als eine Kerze wurde für das Mädchen in achtzehn Jahren nicht angezündet. Auch nicht, als sie längst im Westen gelandet waren.
Gelandet, nicht geflohen!
Auf diese Differenzierung legte Rainer, der Vater, großen Wert. Geburtstage zu feiern war und blieb eine zu verachtende bourgeoise Angelegenheit. Nicht einmal Ulbricht oder Honecker waren in der Hinsicht so genau gewesen.
Die unterschlagenen Geburtstage … Auf sie hat Westhäußer schon in der Teamsitzung hingewiesen, erinnert sich Sachs. Was sich daran an Defiziten knüpft, sei in der Einzeltherapie vorrangig zum Thema geworden. Dr. Sachs merkt sich im Geiste vor, der Herbst diesbezüglich auf den Zahn zu fühlen. Nicht selten, dass Patienten übertreiben, um sich wichtiger zu machen, als ewiges Opfer hinzustellen. Aber andererseits könnte diese Geschichte auch die Spitze eines Eisbergs sein. Eines Eisbergs im doppelten Sinn des Wortes.
Er wird jäh in der Lektüre unterbrochen. Die Tür zum Vorzimmer fliegt auf, und in ihr steht, gefolgt von der Sekretärin, seine überfällige Patientin.
„Entschuldigen Sie, Herr Doktor! Ich habe Frau Herbst gesagt, sie müsse draußen warten, aber …“
„Schon gut, Isolde.“ Er bedeutet seiner Sekretärin zu verschwinden und wendet sich an die Patientin, die sich nicht von der Stelle rührt. Als wäre sie mit dem Türrahmen verschweißt.
„Nehmen Sie doch Platz, bitte.“ Er weist in Richtung Couch. Sie macht keine Anstalten, sich zu bewegen, fixiert nur seine Füße. Dann ein kurzer, entrüsteter Blick. Direkt in seine Augen.
„Aber Herr Doktor!“ ruft sie. „Ihre Hose!“
„Was ist damit?“ Dr. Sachs kontrolliert kurz seine Hosenbeine, kann aber keinen Makel feststellen. Auch der Reißverschluss ist tadellos geschlossen.
„Viel zu kurz!“ Ihre
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