Duenne Haut - Kriminalroman
mich Zeit genommen haben.“
„Keine Ursache“, sagt er. „Nehmen Sie doch Platz. Ich schlage vor, wir kommen gleich zur Sache.“
„Natürlich“, sagt sie artig. Ein frommeres Lamm kann man sich nicht vorstellen. Kaum zu glauben, dass es erst drei Minuten her ist, seit sie ihn auf den Boden gezerrt und ihn mit dieser unglaublichen Unterstellung konfrontiert hat.
„Gut“, lächelt er, „lassen Sie uns damit beginnen: Wer ist Willie?“
10 E N PASSANT
Der Aufenthaltsraum mit dem erhabenen Namen
Forum
im Zentralgebäude der Klinik übt auf Hagen eine magische Anziehungskraft aus, seitdem er festgestellt hat, dass sich hier der einzige Kaffeeautomat verbirgt. Das Forum steht der gesamten Klientel des
Sonnblick
zur Verfügung. Das Beste daran: Hier gibt es von allen Räumlichkeiten die geringste Kontrolle. Am wenigsten Struktur, wie das Zauberwort der Therapeuten lautet. Ärzte oder Pflegepersonal verirren sich kaum hierher, nur eine Rezeptionistin hält müde beim Eingang Wache. Dennoch wird das Forum wenig genutzt. Keine fünf Tische, die besetzt sind, und wenn überhaupt, wird nur im Flüsterton geredet, als säße man in der Kirche. Mag sein, dass es an der tristen Grundstimmung in diesem Raum liegt. Trotz der pastellfarbenen Sichtschutzwände mit den Aquarellen und ihren fröhlichen Motiven. Irgendwie wirkt alles hier wie ein permanentes Werbeplakat, das einen auffordert, das Leben doch leicht zu nehmen. Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt.
Umso erfreuter ist Hagen, zwei Tage nach seinem Einstand in der Gesprächsgruppe wieder auf Prader zu treffen. Der studiert gerade eine Zeitung, aus welcher er dies und das auf seinen Notizblock überträgt. Politikersprüche, vermutet Hagen, das tägliche Brot für einen Kabarettisten. Aber als er sich anpirscht und dem depressiven Wiener über die Schulter schaut, muss er feststellen, dass er sich geirrt hat: Prader ist mit einem Schachproblem beschäftigt. Und auf dem Notizblock hat er, wenn Hagen die Kombinationen aus Buchstaben und Zahlen richtig deutet, diverse Zugvarianten vermerkt.
Prader ist so versunken in sein Studium, dass er ordentlich erschrickt, als er den Atem des anderen auf seinem blanken Hinterkopf spürt. „Spielst du etwa auch Schach?“
„Nicht wirklich. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich noch alle Regeln kenne.“
Hagen versucht sich zu vergegenwärtigen, wann er das letzte Mal eine geschnitzte Holzfigur auf dem Brett bewegt hat. Vermutlich in seiner Blütezeit als Handballer. Sein letzter Trainer, ein vierundsiebzigjähriger Jugoslawe namens Mladen Markovics, war ein großer Anhänger von Taktik und Strategie, nicht nur auf dem Spielfeld. Also marterte er nicht nur die Körper, sondern auch die Köpfe seiner jugendlichen Anbefohlenen. Es gab Schach in der Kantine oder Schach im Zug, wenn sie zu Turnieren fuhren. Aber keiner der Siebzehnjährigen schaffte es jemals, den alten Herrn zu schlagen.
„Schau dir diese Stellung an. Es ist zum Verrücktwerden! Ein simples
Matt in drei
. Und obwohl nur mehr elf Figuren auf dem Brett sind, verbeiße ich mich seit einer halben Stunde vergeblich in dieses Problem.“
„Und wozu tust du dir das an? Kann man dabei etwas gewinnen?“
„Aber woher denn! Gehört einfach zu meinen wöchentlichen Ritualen. Zwei der drei Problemstellungen schaffe ich auch für gewöhnlich, das
Matt in vier
nur im Ausnahmefall. Aber diesmal ist mir schon der Dreizüger zu hoch.“
Hagen beugt sich tiefer, stülpt seine Unterlippe vor.
„Hm“, macht er und legt die Stirn in Falten. „Warum ziehst du nicht einfach den Bauern auf, opferst im zweiten Zug das Pferd für ein Abzugsschach und nach Dame auf d7 folgt matt!“
Prader kratzt sich am Kinn. „Und … und was ist mit dem En passant? Hast du das En passant bedacht?“
„Nee“, sagt Hagen im schönsten Bundesdeutsch. „Ehrlich gesagt, diese Regel hab ich nie ganz begriffen.“
Praders Kopf wackelt hin und her, während er Hagens Vorschlag überprüft. „Unglaublich“, murmelt er, „wirklich unglaublich!“
„Also richtig?“
„Sieht so aus. Mein lieber Chefinspektor: Du kennst nicht einmal die En-passant-Regel und hast dennoch auf Anhieb den richtigen Zug gefunden. Das nenne ich wahre Intuition!“
Hagen breitet seine Arme aus wie die Christusstatue über Rio de Janeiro. „Ach was. Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn.“
„Untertreib nicht. Das ist jetzt schon der zweite Streich, nach deinem Auftritt in der Gesprächsgruppe
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