Duenne Haut - Kriminalroman
Stimme tönt, als wolle sie eine Schuld biblischen Ausmaßes einmahnen. „Mindestens zwei Zentimeter. Hat Ihnen Ihre Frau das noch nie gesagt?“
Dr. Sachs schmunzelt. Nach über zwanzig Jahren Praxis kennt er so ziemlich alle Fallen, die Patienten einem Therapeuten zu stellen versuchen, um sich in sein Privatleben zu zwängen. Und sei der Reißverschluss noch so fest geschlossen. Er lässt sich auf seinem Ledersessel nieder und schlägt die Beine übereinander.
„Liebe Frau Herbst, ich danke Ihnen für den gut gemeinten Rat. Er ist doch gut gemeint, nicht wahr?“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Herr Doktor.“
„Welche Frage?“
„Was Ihre Frau dazu sagt. Hören Sie mir nicht zu? Mein Gott, wenn Sie schon bei so einfachen Dingen nicht aufpassen, wie soll das erst werden, wenn es um schwierigere Themen geht?“
„Ich höre Ihnen sehr wohl zu. Aber ich würde vorschlagen, wir lösen uns jetzt erst einmal von … von diesen niederen Regionen. Einverstanden?“ Dr. Sachs nickt mehrmals, während er diese Frage stellt, die eigentlich gar keine ist. Das hat er sich während seines Gastsemesters in Baltimore angewöhnt. In den Staaten wird viel genickt beim Reden, ein wirksames Mittel der Selbstverstärkung wie auch zur Fremdsteuerung.
„Nein“, sagt sie und schüttelt energisch ihren Kopf. „Das geht leider nicht. Sie müssen wissen: Ich bin hundertprozentig organisch unterwegs. Immer eins nach dem anderen. Zuerst die niedrigen Hürden, dann die ein bisschen höheren … Genau so lautete Dr. Westhäußers Empfehlung in unserer letzten Stunde. Dieser Feigling! Einen Tag später gibt er mir den Laufpass und liefert mich aus. An Sie!“
Dr. Sachs blickt ihr neutral in die Augen. „Frau Herbst. Wir sind hier nicht zum Hürdenlaufen und auch nicht zum Fangenspielen. Und schon gar nicht wurden Sie an jemanden ausgeliefert. Sie sind völlig freiwillig hier. Wenn Sie heute nicht über sich sprechen wollen, müssen wir das nicht tun. Es liegt ausschließlich an Ihnen, wie schnell wir weiterkommen. Ich bin jedenfalls bereit, Sie ein Stück des Wegs zu begleiten.“
Sie zuckt zusammen.
„Wir
? Sie und ich – gemeinsam unterwegs? Das behauptete Westhäußer auch, eingangs. Aber nach nur zwei Wochen warf er bereits das Handtuch. Weil ich nicht nett genug war zu ihm. Dabei bräuchte er viel Liebe, nur eben vom anderen Lager, das bemerkte ich sofort. Wissen Sie, dass Westhäußer schwul ist?“
Wie hat sie das so schnell herausgekriegt?, denkt er. Er selbst hat Jahre dafür gebraucht.
„Natürlich wissen Sie es. Doch Sie sehen darüber hinweg, es macht Ihnen nichts aus. Ein echter Liberaler! Und Sie lassen sich auch durch nichts aus der Ruhe bringen, habe ich recht? Ein Ritter ohne Fehl und Tadel, dem keine Aufgabe zu groß ist. Aber denken Sie wirklich, dass Sie mit mir Schritt halten können? Was, wenn unsere gemeinsame Reise ein Ritt auf dem Besen wird, ein Ritt inmitten von Blitz und Donner, direkt hinein in den Hexensabbat – huiii!“
Mit einem Satz ist sie auf den Beinen und führt ihm den Hexenritt theatralisch vor Augen, auf einem Besen, den sie fest an ihren Schoß presst, reibt. Grunzend und ächzend und stöhnend tanzt sie um den Sitzenden herum. Doch so leicht ist ein Dr. Sachs nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er lässt sie eine Weile gewähren, ehe er ruhig weiterspricht.
„Ich verstehe, es geht also um eine Walpurgisnacht. Um
Ihre
Walpurgisnacht. Lustvoll und schrecklich zugleich, nicht wahr? Nicht wahr, Frau Herbst? Wollen wir uns jetzt darüber unterhalten?“
„Nein!“ Mit einem wilden Schwung schleudert sie den unsichtbaren Besen von sich. „Nichts ist lustvoll daran, alles ist Schrecken! Zur Hölle mit Ihrem männlichen Blick, zur Hölle mit Ihrem männlichen Gelaber!“
Ohne Vorwarnung knickt sie zusammen. Schlägt so fest auf, dass er, besorgt, sie könnte sich verletzt haben, über sie beugt. Für einen Moment lenkt ihn, bei aller therapeutischen Abstinenz, ihr Dekolleté ab, und schon spürt er ihre Arme um seinen Hals. Unbändig, umschlingend, als hätte sie acht davon. Die Tentakel einer Circe aus der Tiefe.
Dr. Sachs ist kein Schwächling, im Gegenteil. Das tägliche Jogging im Kurpark und das Krafttraining im Fitnessraum haben an seinem Körper markante Spuren hinterlassen, unübersehbar trotz der weit geschnittenen Medizinerkluft. Aber dem Griff dieser Frau hat er nichts entgegenzusetzen, zumal ihn der Überfall völlig überrumpelt. So stürzt er
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