Duerers Haende
eines Lederreinigungsmittels gefunden.«
»Wie geht das deiner Meinung nach zusammen?«
»Ich vermute, aber es ist lediglich eine Möglichkeit, er ist nach dem Schlag auf sandigen Boden gefallen, irgendwann später auf ein Ledermöbel oder auf ein Kleidungsstück aus Leder gelegt worden, das mit diesem Reiniger behaftet war. Und auf diesem Möbel- oder Kleidungsstück ist er dann auch gestorben, also verblutet.«
»Und dann gibt es noch den Besuchereingang zum Wasserwerk, wo ihn der Hundebesitzer gefunden hat. Also summa summarum die drei letzten Stationen des Abdulaziz Shengali. Tatort, Sterbeort, Fundort.«
»Ja. Noch eins: Der Tote hatte einen Situs inversus. Eine Organanomalie. Bei ihm lagen Leber und Milz seltenverkehrt. Das wäre auch eine Erklärung für die Rissspuren im Nackenbereich. Menschen mit einer solchen Anomalie tragen in der Regel stets eine Marke am Körper, meist um den Hals an einer Kette. Das kann im Fall eines Unfalls wichtig werden für die medizinische Erstversorgung. Der Täter hatte von dieser Krankheit aller Wahrscheinlichkeit nach Kenntnis. Darum hat er Shengali die Kette abgerissen. Um hundertprozentig auszuschließen, dass dem Opfer geholfen werden kann, wenn der Schlag doch nicht tödlich gewesen sein sollte. Wenn es so ist, wie ich vermute, sagt uns das auch: Der Mörder ist kein Berufskiller. Profis wissen, dass man mit einer derartigen Kopfverletzung keine Chance hat zu überleben.«
Nachdem sie sich von Müdsam verabschiedet und ihm, heute herzlicher als sonst, für seine Informationen gedankt hatte, wählte sie die Nummer der Spedition. Als dort beim dritten Versuch immer noch belegt war, rief sie das Dezernat 2, K20 an. Augenblicklich meldete sich Eva Brunner.
»Über den Laster gibt es nichts Neues, Frau Steiner. Aber über den Ostapenko habe ich Etliches herausgefunden. Interessante Sachen.«
Sie sagte ihr, das würden sie morgen in der Früh innerhalb einer kleinen informellen Dienstbesprechung in aller Ausführlichkeit, ja, so drückte sie sich aus, bereden. Jetzt jedoch gehe sie heim, sie müsse sich noch um eine dringende private Angelegenheit kümmern. Paula Steiner war nämlich in der Zwischenzeit ihr eigenes kleines Ränkespiel eingefallen. Und wie abhängig sie von dessen Gelingen doch war. Von Heinrichs Rückkehr an seinen angestammten Platz an ihrer Seite hing mehr ab als die Freude an ihrer Arbeit – nämlich die Lust am Leben generell.
3
Es war halb sechs, als sie die Wohnungstür im Vestnertorgraben aufsperrte. Da sie ohne Schirm zu Fuß heimgegangen war und es noch immer – oder schon wieder? – regnete, hatte sie klitschnasse Haare. Sie holte sich ein frisches Frotteetuch aus dem Bad und trocknete sie im Stehen, während sie auf die Kaiserburg sah. Selbst bei diesem abscheulichen Wetter, unter diesem grau-langweiligen Himmel, der alle architektonischen Sünden ihrer Heimatstadt – wovon es ihrer Meinung nach viel zu viele gab – schonungslos bloßlegte, strahlte die Kaiserstallung Gelassenheit und Würde aus. Diese Zuverlässigkeit des Bauwerks gab ihr ein beruhigendes Gefühl für das, was nun vor ihr lag.
Was, wenn Heinrich ihr auf die Schliche gekommen war? Wenn er erfahren hatte, mit welchem Trick sie die Ärztin gegen ihn aufgehetzt hatte? Enttäuscht wäre er auf jeden Fall von ihr. Vielleicht derart enttäuscht, dass er sich in eine andere Abteilung versetzen lassen würde? Denn dass sie mehr auf ihn angewiesen war als umgekehrt, das stand für sie jetzt außer Frage. Sie setzte sich. Erinnerte sich an die vergangenen Tage ohne Heinrich. Sie hatte nicht wie sonst Freude an ihrer Arbeit oder Lust auf ihr Daheim empfunden. Die Tage waren wie unter Narkose verlaufen, leer, gefühllos, wie gelähmt. War das die Reue über ihr Versagen in diesem schrecklichen Hinterhof oder nur eine depressive Verstimmtheit, wie sie das Alter wohl zwangsläufig mit sich brachte? Egal. Es war auf jeden Fall eine Zeit der schwermütigen Sinnlosigkeit, die sich nicht wiederholen durfte.
Sie zwang sich zum Optimismus. Ihre Zweifel waren sicher grundlos, ihre Verbündete, die Ärztin, hatte auf sie einen energischen, ja kämpferischen Eindruck gemacht. Die würde sie nicht im Stich lassen. Oder? Einer alten Gewohnheit folgend, die sie in schwierigen privaten Situationen zur nächstbesten Weinflasche greifen ließ, zog sie mit Schwung die Kühlschranktür auf. Schenkte den Rest des fränkischen Grauburgunders in ein Wasserglas und leerte es noch im Stehen.
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