Duerers Haende
mit dir können wir ja auf längere Sicht nicht rechnen. Also habe ich jemanden gebraucht.«
»Aber ich komme doch wieder.«
»Ja schon, aber wann? Und wer weiß, in welchem Zustand du dann bist? Vielleicht bist du, wenn du diese« – sie sprach nun mit der stilsicheren Mischung aus mitfühlender Wärme und professioneller Härte einer Vorgesetzten, die auch sehen musste, wo sie blieb – »schlimme Sache einigermaßen auskuriert hast, gar nicht mehr für den aktiven Dienst geeignet? Da muss ich schon Vorsorgemaßnahmen treffen.«
»Wo soll ich denn dann deiner Meinung nach arbeiten?«
»Meiner Meinung nach sollst du immer bei mir arbeiten. Das weißt du doch, Heinrich. Da brauchst du gar nicht zu fragen.« Das war bis hierher wahrheitsgemäß. Jetzt aber verließ Paula Steiner den Pfad der Aufrichtigkeit, abrupt und unwiderruflich. »Fleischmann sieht das allerdings anders. Er würde dich gern versetzen. In eine Abteilung, in der du nicht diesem Stress und der tagtäglichen Belastung ausgesetzt bist.«
»Und das wäre wo?«
Sie ließ sich Zeit für die so wichtige Antwort.
»Er hat da an die Pressestelle gedacht. Die brauchen doch immer Leute.« Sie wusste, dass keine Abteilung bei Heinrich derart in Misskredit stand wie die Pressestelle. Den ganzen Tag nur dieser Papierkram, jeden Scheißdreck muss man sich genehmigen lassen, das hat doch mit Polizeiarbeit nichts zu tun, war seine Meinung. Außerdem war da das Großraumbüro, das den Nägelbeißer und Liebhaber von Computerspielen unter ständige Beobachtung stellen würde.
Nun hatte sie es eilig. Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln, einem aufgesetzten Lächeln, so falsch wie die Lüge, so widerlich süß wie ein Kilo Kunsthonig. Als sie im strömenden Regen zur Busstation lief, war sie beschwingt und heiter. Und voller Hoffnung, dass die Saat aus Verrat und Berechnung, die sie in dem kleinen Krankenzimmer ausgestreut hatte, bald aufgehen würde.
Es war kurz vor einundzwanzig Uhr, als sie den Vestnertorgraben erreichte. Sie ging auf direktem Weg in den Keller und holte sich das Beste und Teuerste, was ihr Weinvorrat derzeit zu bieten hatte: die letzte Flasche Le Vele Verdicchio dei Castelli di Jesi aus dem Jahr 2009. Mit ihr und drei köstlichen, fruchtigen, zarten Brombeeromeletts feierte sie diesen Tag, der doch noch eine so überraschend glückliche Wendung genommen hatte.
Als sie am nächsten Morgen die Augen öffnete, trampelte eine Kamelkarawane quer über ihre linke Stirnhälfte. Sie schloss die Augen. Das Trampeln wurde stärker. Sie hatte Kopfweh. Oder eine Migräneattacke im Ansatz. Zu viel Wein, zu viele Zigaretten gestern Abend. Heute Abend, nahm sie sich vor, wird nur Wasser getrunken. Gesundes, harmloses, fades Mineralwasser ohne Nebenwirkungen.
Sie stand auf, ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Bedächtig aß sie drei Knäckebrote mit Butter und Honig, trank Kaffee und spürte, wie der Schmerz im Kopf langsam nachließ.
Eine halbe Stunde später betrat sie ihr Büro und war überrascht, dass auf Heinrichs Stuhl bereits eine ausgeschlafene, fröhliche und erwartungsvolle Eva Brunner saß. Heute ohne die obligate Mütze und gewohnte grüne Jacke, dafür in Blue Jeans und dunkelblauer Bluse, die frisch gebügelt aussah.
»Guten Morgen, Frau Steiner. Es ist Ihnen doch recht, wenn ich heute den ganzen Tag bei Ihnen verbringe?«
Sie nickte, während sie den Schirm zum Trocknen aufspannte und die Jacke auf den Bügel hängte.
»Also erstens, der Laster ist bis jetzt noch nicht aufgetaucht. Aber ich habe mich in die Sache schon eingeschaltet. Das war zwar nicht einfach, weil die Kollegen von der Fahndungsstelle dafür unbedingt Ihr Einverständnis haben wollten. Ich habe mich dann an Herrn Fleischmann gewandt, und der hat das für uns beide geregelt. Ich hoffe, das war in Ordnung so?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, sprudelte der Redefluss weiter und weiter, wie ein Gebirgsbach nach der Schneeschmelze im Frühjahr. »Auf jeden Fall werden Sie sofort benachrichtigt, sobald der Lkw gefunden wird. Auch die Sicherstellung habe ich schon veranlasst. Die bringen den umgehend zur Spurensicherung, der kommt gar nicht mehr in die Spedition. Da können sich die Freys aufführen, wie sie wollen. Die haben keine Chance. Das wusste ich im Übrigen auch nicht, dass das so streng gehandhabt wird. Jetzt zum Zweiten: Chanim Ostapenko. 1976 in Alma Ata geboren, dort eine Lehre zum Automechaniker abgeschlossen. 1998 nach Deutschland
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