Duerers Haende
leeren weißen Blatt Papier zu fixieren. Bei Mord gibt es keine Zufälle. Jedes Detail kann ein Zeichen, eine Chiffre sein, deren Bedeutung sie im Augenblick zwar nicht erkennen, auf die sie aber vielleicht irgendwann einmal angewiesen sein konnte. Nur beim ersten Anblick hatte sie diese Frische der Optik, waren ihre Sinne so wach, geschärft wie bei Waldtieren in Gefahr. Sie sah zur Seite, schloss die Augen für einen Moment und blickte wieder auf den Toten. Nun erkannte sie ein weiteres Detail: Der Schädel war in der Mitte ganz leicht eingedellt, als hätte ein unsichtbarer Kamm einen akkuraten Mittelscheitel durch die Blutklumpenberge gezogen.
Müdsam, der stumm und untätig neben ihr stand, sie ihre Beobachtungen in Ruhe machen ließ, sagte: »Soweit ich bis jetzt erkennen kann, wurde er mit einer runden langen Metallstange, wahrscheinlich aus Eisen, erschlagen. Genau mitten auf den Kopf. Von vorn, von Angesicht zu Angesicht. Entweder hat er sich nicht gewehrt gegen seinen Angreifer oder er ist von dem Schlag überrascht worden, denn er ist nicht zur Seite oder nach hinten ausgewichen. Noch eins kann ich mit Sicherheit sagen: Tatort und Fundort sind nicht identisch. Ansonsten hätte hier unter seinem Kopf trotz des Regens eine wesentlich größere Blutlache sein müssen. Das heißt: Die Wunde ist andernorts schon nahezu vollständig ausgeblutet und auch verkrustet. Tatzeit gegen acht Uhr gestern Morgen plus/minus eine Stunde. Bei eingetrocknetem Blut ist es ein Leichtes, die Tatzeit exakt zu bestimmen. Das aber erst im Labor.«
Sie nickte ihm gedankenverloren zu, ihre Kohlezeichnung war fixiert.
»Ach«, fügte Müdsam hinzu, »noch was. Er muss um den Hals eine Kette getragen haben, vielleicht eine Goldkette. Das allerdings kann ich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Im Nacken sind winzige Spuren, die darauf schließen lassen, dass man sie ihm gewaltsam abgerissen hat. Alles Weitere kriegst du so bald als möglich. Ich lass ihn dann mitnehmen, wenn du fertig bist. Bernhard hat seine Aufnahmen schon gemacht.«
»Ich bin fertig, Frieder. Du kannst ihn haben.«
Müdsam winkte den zwei Mitarbeitern des Bestattungsunternehmens auffordernd zu, die rauchend neben einer Bahre standen. Nun erst nahm sie den leichten Zigarettengeruch wahr, der von der Wiese herüberwehte. Spürte den kalten Wind im Gesicht, hörte die Vögel in den Baumkronen zwitschern und bekam auf einmal eine solche drängende Lust auf eine Zigarette, dass sie ohne Hemmung die Bestatter ansprach: »Könnten Sie mir freundlicherweise eine Zigarette schenken? Und Ihr Feuerzeug ausleihen? Ich hab beides im Auto gelassen.«
Sofort und wortlos wurde ihr das Gewünschte ausgehändigt. Als sie den ersten Zug von der ersten Zigarette dieses Tages nahm, wurde ihr ein wenig schwindlig. Sie lehnte sich an dem Rolltor an, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Das Schwindelgefühl wurde von einem kurzen Kick der Euphorie abgelöst. Sie nahm sich vor, ihrem Kontrahenten auf dem Rückweg irgendeine nette Verbindlichkeit zukommen zu lassen.
Der Leichnam lag jetzt auf der Bahre. »Habt ihr alles von ihm, was ihr braucht?«, fragte sie Klaus Dennerlein, der mit der Pinzette in der Hand gebückt den Teerboden absuchte.
»Ja, von uns aus kann der Mann in die Gerichtsmedizin.«
»Irgendwelche Hinweise auf die Identität?«
Dennerlein langte nach hinten und holte aus dem wuchtigen abgeschabten Metallkoffer drei Plastiktüten heraus.
»Hier sind sein Ausweis, der Führerschein, eine Tankkarte und eine Fahrerkarte, wie sie Berufskraftfahrer haben, der Schlüssel, das Portemonnaie. Gut hundertzwanzig Euro hatte er bei sich. Sogar ein Käsebrot und klein geschnittenen Kohlrabi haben wir gefunden. War alles in seinen Jackentaschen, das Brot und das Gemüse sauber verpackt in Stanniolpapier.«
Sie griff nach der Tüte mit dem Ausweis und betrachtete das unscharfe grob gerasterte Passfoto. Ja, das war der Tote, kein Zweifel. Dieser ungewöhnlich schöne markante Mund. Dunkle mandelförmige Augen und eine schwarze kinnlange Lockenpracht. Ein wirklich gut aussehender Mann, auch wenn er für ihren Geschmack die Haare zu lang trug, was dem Gesicht einen Zug ins Feminine verlieh. »Shengali Abdulaziz«, las sie halblaut vor. Geboren in Basra. Ein Iraker. Vierzig Jahre alt. Seltsam, sie hätte nach seinem Aussehen eher auf einen Südamerikaner getippt, einen Chilenen, Peruaner oder Brasilianer. Während ihres Studiums in München hatte sie etliche Perser, einige
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