Duerers Haende
Kramer an diesem Tag? Tagsüber wie üblich in seinem Büro und abends daheim? Oder war an diesem Tag etwas anders, ist er zum Beispiel früher oder später als sonst aus dem Haus gegangen?«
»Warum möchten Sie das wissen?«, lautete die schnelle und erstaunte Gegenfrage.
»Weil ich es eben wissen will«, antwortete sie mit einem angestrengten Lächeln.
»Am Montag vor einer Woche«, murmelte Susanka Blahotova. Nach langem Schweigen hellte sich ihre Miene erinnernd auf. »Karsten hatte am Abend eine wichtige Besprechung mit einem Kunden. Da war er nicht daheim.«
»Wann war er denn wieder hier?«
»Kurz nach Mitternacht.«
»Gut. Dann würden wir jetzt gern die übrigen Räume sehen.«
Der Rundgang begann in der Küche. Auch hier dominierte die Farbe Weiß, war aber nicht so ganz und gar allein auf sich gestellt wie im Wohnzimmer, sondern erhielt Gesellschaft von einem glänzenden Silbergrau. Der Herd, die Spüle, die offenen Regale, der Kühlschrank – alles aus blinkendem Edelstahl. Paula fühlte sich an Frieders großen Obduktionssaal erinnert.
Sie stellte sich gedanklich auf die nächste Station, das Schlafzimmer Kramers, ein: sicher ein weißes Doppelbett mit weißer Leinenbettwäsche, links und rechts ein Beistelltischchen aus Glas, schwere weiße Gardinen und ein riesiger weißer Einbaukleiderschrank. Ein weiterer aseptischer Raum, genauso unpersönlich wie das Wohnzimmer und die Küche.
Sie sollte in allem recht behalten. Bis auf eine Kleinigkeit. An einer Wand hing eine gläserne Konsole. Darauf stand als einziger Raumschmuck ein volkstümlicher kleiner Altar, aus Holz geschnitzt und sicherlich mehrere hundert Jahre alt. Die wurmstichige und fast farblose, verblichene Antiquität stammte, vermutete sie, aus einer ehemaligen Hauskapelle. Oder aus einer Wegkapelle, wie man sie früher am Straßenrand vielfach fand, vor allem in den katholischen Teilen Bayerns. Sie kannte sich bei Antiquitäten nicht aus, vermutete aber, dass es sich bei dieser Kreuzigungsgruppe um eine kleine Kostbarkeit handelte. Um eine risikofreie Wertanlage. Hier auf dieser massiven Glaskonsole hatte Kramer den Gegenwert eines Kleinwagens, neu, nicht gebraucht, deponiert. Aus dem Sockel waren drei Figuren mit faltenreichen Gewändern herausgeschnitzt, zwei weibliche und eine männliche. Sie hielten die zum Gebet zusammengelegten Hände in Demut zu einer Christusfigur, die an einem Kreuz hing, empor. Sie starrte auf die betenden Hände.
»Schön, nicht wahr?«, sagte Susanka Blahotova.
»Ja, sehr schön. Wissen Sie, wen diese Figuren darstellen sollen?«
»Das links ist die heilige Maria, in der Mitte Magdalena und rechts Johannes.«
»War Herr Kramer denn katholisch?«
»Ich glaube schon. Er sagte, er möchte das Schlafzimmer mit unserem Heiland«, Frau Blahotova zögerte einen Moment, bevor sie den Satz zu Ende führte, »aufpeppen.« Die Art und Weise, wie sie das letzte Wort aussprach, machte klar, dass sie das Motiv von Kramers Raumgestaltung für höchst zweifelhaft, ja, im Grunde für obszön hielt.
»Und Sie, sind Sie katholisch?«
»Natürlich. In meiner Familie sind alle katholisch.«
Paula Steiner verzichtete auf eine weitere Fortsetzung der Besichtigung. Sie hatte genug gesehen. Genug von der genormten, banalen, sterilen Eigentumswohnung dieses skrupellosen Spekulanten, der in allem ein Geschäft witterte – sogar im Leiden Christi. Der religiöse Volkskunst als Kosmetikum für sein Schlafzimmer missbrauchte. Ja, das war widerlich und obszön, stimmte die im lutherischen Glauben erzogene Paula Steiner der katholischen Tschechin stumm und empört zu. Doch da die Kommissarin schon von Berufs wegen regelmäßig mit den Schwächen der menschlichen Natur konfrontiert wurde, dauerte dieser Moment der moralischen Entrüstung nur kurz. Aber in seiner Flüchtigkeit doch lange genug, um dem kleinen Hausaltar mit den drei betenden Figuren noch ein paar Gedanken zu widmen.
Wer einem gekreuzigten Christus die Rolle des Aufpeppers für ein gespenstisches Schlafzimmer zuwies, brauchte nicht nur ein berechnendes Wesen und eine große Portion Selbstgefälligkeit, sondern vor allem ein eiskaltes Herz. War das nicht genau die Mischung, um einen gläubigen Moslem, der sich nicht mehr wehren konnte, mit dem christlichen Symbol des Trauerns ein letztes Mal zum Narren zu halten? Waren Kalkül, das Selbstverständnis als Kunstkenner und das Fehlen jedes Mitgefühls nicht die Grundvoraussetzungen für jenes falsche und böse Spiel,
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