Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
ihr trinken. Hatte sie auch nicht erwartet.
»Ich werde ein paar Tage wegfahren, Herr Krispin.« Mona zögerte. War es zulässig, einen Pastor darum zu bitten? Warum nicht? Seit der alte Paulsen nebenan ausgezogen war, war Ralph Krispin ihr nächster Nachbar. »Könnten Sie in den nächsten Tagen meine Hühner und die Katze für mich füttern? Sie müssen nur Futter hinstellen und ab und zu frisches Wasser. Der Hühnerstall und der Schuppen sind offen, und die Dosen mit dem Katzenfutter stehen auf dem Fensterbrett. Das Hühnerfutter befindet sich darunter im Regal.« Einen kurzen Moment meinte Mona, einen fassungslosen Ausdruck in dem sonst so kontrollierten Gesicht zu sehen.
»Klar. Kein Problem. Aber warum wollen Sie denn weg?«
»Ich muss einfach ein paar Tage hier raus.«
»Aber es steht doch noch gar nicht fest, dass es …« Er hielt verlegen inne.
»Ich kann nicht hier herumsitzen und nichts tun«, sagte Mona und wandte den Blick ab.
»Warten Sie wenigstens, bis die Polizei sich noch mal bei Ihnen gemeldet hat«, schlug er unbehaglich vor.
Nichts wusste er, gar nichts! Wahrscheinlich dachte er, ihr Sohn wäre bei einem Unfall ums Leben gekommen.
»Ich werde der Polizei Bescheid sagen, wo ich zu erreichen bin. Ich fahre nur zu meiner Schwester. Außerdem habe ich Sie schon zu lange aufgehalten, Herr Krispin. Tut mir leid, dass ich heute nicht zu Ende putzen konnte. Ich hol’s ein anderes Mal nach.«
Der Pastor verstand den Rausschmiss. Nach ein paar Beteuerungen, dass sie sich jederzeit mit ihren Problemen an ihn wenden könne, verließ er ihr Haus.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, lauschte Mona in die Stille. Sie breitete sich aus wie ein zäher Brei. In einem alten Haus war es eigentlich niemals vollkommen leise: ein Ächzen hier, ein Knarren dort. Man konnte nie sicher sein. Mona wusste, dass sie verloren war, wenn sie sich jetzt erlaubte, über alles nachzudenken. Sie wählte noch mal Andrés Nummer, aber sie ahnte schon, dass sie ihn nicht erreichen würde. Er konnte nicht mehr ans Telefon gehen. Sie schluchzte auf. Doch sie musste sich zusammenreißen …
Ihr Blick fiel auf den Becher mit Tee. Sie stand auf und schüttete das Gebräu in die Spüle. Dann schenkte sie sich zwei Fingerbreit Korn in den Steingutbecher ein und trank ihn in einem Zug aus. André nannte das Zeug ihr »Brillenputzmittel«, und so schmeckte es auch. Der Alkohol brannte in der Kehle, aber er verbreitete eine wohlige Wärme in ihrem Magen. Sie fühlte sich gestärkt, ja angenehm benommen. Mona wollte sich noch einen Schluck eingießen, ließ es aber bleiben. Sie musste ihre fünf Sinne beisammenhalten. Der Sekundenzeiger der Küchenuhr zuckte aufreizend schnell von Strich zu Strich, von Zahl zu Zahl. Nur noch ein paar Papiere zusammensuchen und dann weg!
Mona bewahrte ihre persönlichen Unterlagen in den Schubladen ihres Wohnzimmerschrankes auf. Ihre Geburtsurkunde, Rentenbelege und das Sparbuch mitzunehmen, konnte nicht schaden. Nervös wühlte sie sich durch die Papiere. Dabei fielen ihr alte Schulzeugnisse von André in die Hände, ein Impfausweis und im Lauf der Zeit eigenwillig verfärbte Fotos. Sie wurde von ihrem Widerwillen, diese Dinge anzurühren, überrascht. Wie gelähmt kniete sie da und starrte auf das Bild ihres siebenjährigen Sohnes in kurzen Hosen und mit Schultüte im Arm. Er stand da vor der Düsterbrucher Kirche, wo der Einschulungsgottesdienst des früheren Pastors stattgefunden hatte. Das war noch einer von ihnen gewesen, bodenständig und ganz ohne heimliches Getue.
Sie hörte ein Knarren, wie es die dritte Stufe, die ins Obergeschoss führte, von sich gab, wenn ein Mensch darauftrat. Nicht wie bei der Katze, die zudem um diese Uhrzeit draußen herumstreunte, sondern genau wie bei einem schweren … Mann!
Mona erstarrte. Ihre Gedanken waren glasklar und sagten ihr, dass jetzt der Zeitpunkt zum Handeln gekommen war. Wenn sich wirklich jemand in ihrem Haus aufhielt, blieb ihr nicht viel Zeit. Doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie verharrte bewegungslos auf den schmerzenden Knien vor der geöffneten Schublade. Nichts passierte. Die Nerven gehen mit dir durch, war Monas nächster Gedanke. Der Geruch fiel ihr wieder ein. Etwas Tierisches, das ihr beim Hereinkommen in die Nase gestiegen war. Nun roch sie es wieder … Stand etwa ein Fenster offen, sodass der Gestank von draußen hereinkam? Wer wusste schon, was Jörg Seesen so alles »Dünger« nannte und auf seinen Acker kippte?
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