Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
Sideboard. »Es funktioniert auch innerhalb von Düsterbruch, soweit ich weiß.«
»Sarkasmus steht dir nicht, Carola. Und wie geht es eigentlich meiner Enkeltochter?«
»Sie sitzt im Bett und hört Musik. Enno sagt, sie wird schon mit uns reden, wenn sie bereit dafür ist.«
»Bereit? Ennos gesunder Menschenverstand setzt aus, wenn es um seine Tochter geht. Sie wickelt ihn um den kleinen Finger. So ist das mit der Liebe zum eigenen Kind. Sie gibt und sie nimmt dir alles. Aber das kannst du nicht verstehen, Liebe.«
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, auf dem Absatz kehrtzumachen und zu gehen. Veronika allein in ihrem Zimmer hocken zu lassen, bis sie an ihren unheilvollen Erinnerungen erstickte. Doch Carola konnte sich nicht beherrschen. »Tizia ist genauso meine Tochter, auch wenn ich sie nicht geboren habe!«
»Meinst du?«
»Wer hat denn bei allen Kinderkrankheiten neben ihrem Bett gewacht? Wer hat ihre Tränen getrocknet und mit ihr gespielt und alles? Was ist dagegen eine leibliche Mutter, die ihr kleines Kind auf einem anderen Kontinent zurücklässt, wie Lindsay es getan hat?«
»Lindsay, wer spricht denn von Lindsay? Wir wissen alle, was du in den letzten Jahren für Tizia getan hast. Aber die Liebe der Eltern zu ihrem Kind … ist eine ungeheure Kraft. Ich fürchte manchmal um Enno, jetzt, da Tizia ihre wilden Jahre hat.«
»Sie hatte schon immer ihre ›wilden Jahre‹«, sagte Carola. »Das fing mit drei im ersten Trotzalter an und hörte nie wieder auf. Mittlerweile ist sie so gut wie volljährig.«
»Lasst sie bloß nicht allein in die Staaten gehen. Lasst sie nicht zu ihrer Mutter! Das Kind braucht noch sehr viel Führung.«
Veronika war wie immer erstaunlich gut im Bilde über alles, was im Haus vor sich ging. Tizias neuester Wunsch war, in die USA zu reisen, um dort ihre Mutter zu suchen, die sich seit Jahren nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Die nächsten Ferien rückten näher, und Tizia schaute sich bereits im Internet nach günstigen Flügen um.
»Keine Sorge. Enno ist strikt dagegen, dass Tizia allein in die Staaten fliegt. Und noch ist sie ja nicht achtzehn.«
Veronika nickte. »Wann kommt mein Sohn heute eigentlich zurück? Ich muss noch etwas Wichtiges mit ihm besprechen.«
»Ich weiß es nicht. Er hat zurzeit viel zu tun.«
»Aber doch wohl nicht nachts, oder?«, fragte Veronika, und ein listiger Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. »Er kommt in letzter Zeit zu den merkwürdigsten Zeiten nach Hause. Ich finde, in einer guten Ehe sollte ein Mann die Nächte im Bett seiner Frau verbringen.«
Das ging zu weit. »Meinst du, dass du das beurteilen kannst, Veronika?«, entgegnete Carola aufgebracht. »Immerhin haben Enno und ich aus Liebe geheiratet. Finanzielle oder anders geartete Interessen waren dabei nicht von Belang.«
»Ja, ich weiß. Ansonsten stünden wir jetzt vielleicht besser da, und mein Sohn müsste nicht tagtäglich bis zum Umfallen in seiner Praxis arbeiten.«
»Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist!« Carolas Stimme hörte sich vor Wut heiser an. Ihr Mann hatte ihr erzählt, dass Veronika von ihrem Vater, einem Bankdirektor, mit Theo von Alsen, einem verarmten Adligen und gut zwanzig Jahre älter als sie, verkuppelt worden war. Dass Enno aus dieser Verbindung hervorgegangen war, grenzte fast an ein Wunder, und als dann Justina elf Jahre später geboren wurde … Aber Justina auch nur zu erwähnen, war ein Tabu in diesem Haus. Und so tief würde Carola nicht sinken, diesen Schicksalsschlag gegen ihre Schwiegermutter zu verwenden.
»Verlass sofort mein Zimmer«, flüsterte Veronika. »Du willst mich belehren? Jeder hier weiß, dass dir dein Beruf wichtiger ist als deine Familie. So sind die Frauen heute: Erst wollen sie Karriere, und dann klappt es nicht mehr mit dem Nachwuchs. Enno hätte auf mich hören sollen …«
Carola verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Dann rannte sie die Treppe hinunter, riss ihre Jacke vom Garderobenständer und stürmte hinaus.
Draußen holte sie ein paarmal tief Luft. Es war nichts passiert, nur das Übliche. Aber sie wusste, dass das Gift der verbitterten Frau früher oder später seine Wirkung tun würde.
Während der sechs Monate von Pias Elternzeit hatte Broders des Öfteren mit ihrem Kollegen Conrad Wohlert zusammengearbeitet, und das neue Team hatte sich gut miteinander arrangiert. Daher fand sich Pia am späten Dienstagvormittag mit Michael Gerlach im Wagen wieder. Die Zusammenarbeit mit ihm fühlte
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